«Wir haben nicht das Recht, sie zu vergessen. Sie haben das allerhöchste Opfer gebracht, sie haben ihr Leben gegeben. Lasst uns in Stille an sie denken.» Eine Menschenmenge steht auf dem Maidan, dem zentralen Platz von Kiew. Zwei Dutzend Frauen halten Fotos von Männern in die Höhe. Es sind Bilder ihrer getöteten Männer, Söhne und Brüder.
Dabei handelt es sich um eine Gedenkveranstaltung für diejenigen, die bei der Verteidigung von Mariupol gefallen sind. Die russische Armee hat die ostukrainische Stadt im vergangenen Jahr nach heftigen Kämpfen eingenommen und hält sie bis heute besetzt. Es war die bisher grösste Niederlage der Ukraine in diesem Krieg – und eine der blutigsten Schlachten.
Wladislaw wollte Heimatstadt verteidigen
Mitten unter den Leuten steht die 45-jährige Svetlana Schewtschenko. Sie erzählt, wie ihr Mann Wladislaw gleich am ersten Kriegstag, am 24. Februar vergangenen Jahres, nach Mariupol gefahren ist. Das Paar lebte zwar schon eine Weile in Kiew, aber Wladislaw wollte seine Heimatstadt verteidigen; die Stadt, in der sich die beiden kennengelernt und eine Familie gegründet hatten.
Wenn ihr Nachbar in ihre Wohnung kommt, um sich schiesst und mordet und sagt: Ich will die Hälfte Deiner Zimmer. Dann sagen Sie ja auch nicht: natürlich, kannst Du haben.
Svetlana hat Wladislaw nie wieder gesehen. «Am 2. März hat er sich per Telefon gemeldet. Danach brach die Verbindung zu Mariupol ab.» Nach ein paar Wochen rief er noch einmal über eine Satelliten-Verbindung an. «Wir sprachen 8 Minuten miteinander», sagt Schewtschenko, der letzte direkte Kontakt.
Svetlana erzählt ganz nüchtern, sachlich. «Wladislaw war Kommandant einer kleinen Einheit der Territorialverteidigung. Seinen Kameraden gelang es noch, seine Leiche zu bergen. Aber sie konnten ihn nicht mehr richtig beerdigen, weil der Beschuss zu heftig war.»
Mariupol fiel bald darauf an die Russen. Die überlebenden ukrainischen Verteidiger ergaben sich. Svetlana weiss nicht, was mit dem Leichnam ihres Mannes passiert ist. «Es heisst, sie hätten viele Gefallene auf dem städtischen Friedhof begraben. Aber das ist keine gesicherte Information.»
Svetlana ist nicht allein
«Wladislaw hat gerne fotografiert. Wir hatten in unserer Wohnung in Mariupol so viele Fotos, auch von Nikita, unserem Sohn, als er klein war. Jetzt ist alles weg, unser Haus ist ausgebombt, ausgebrannt.»
In der ukrainischen Öffentlichkeit ist nicht viel die Rede von den Opfern. Der Staat behandelt die Zahl der Toten als Geheimnis. Sehr ausführlich werden dafür die Erfolge der Armee gefeiert. Dennoch ist Svetlana nicht allein mit ihrem Verlust.
Sie sei viel in Kontakt mit anderen Frauen, die ihre Männer verloren haben. Auf dem Maidan wird sie immer wieder gegrüsst. Wer das gleiche Schicksal hat, hält zusammen.
Widerstand ist ungebrochen
Was denkt sie darüber, dass die Ukraine weiterkämpft und versucht, die Invasoren aufzuhalten? Es ist das einzige Mal, als Svetlana während des Interviews emotional wird, energisch, empört.
«Wenn ihr Nachbar in ihre Wohnung kommt, um sich schiesst und mordet und sagt: Ich will die Hälfte Deiner Zimmer. Dann sagen Sie ja auch nicht: natürlich, kannst Du haben.»
So sehen es viele im Land: die Ukraine kämpft diesen Krieg nicht, weil sie will, sondern weil sie muss. Der Widerstandsgeist jedenfalls ist ungebrochen, auch jener von Svetlana Schewtschenko.
«Sobald die ukrainische Armee zum Angriff übergeht in Richtung Mariupol, werde ich hinterhergehen und die Panzer anschieben, damit alles möglichst schnell geht. Und wenn die Stadt befreit ist, dann werde ich Wladislaw suchen.»