Wohl jeder hat seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine schon eine Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski gehört. Denn Selenski ist omnipräsent: Er spricht weltweit vor Parlamenten, an Demonstrationen – und geizt auch auf Social Media nicht mit Unterstützungsaufrufen für sein Land.
Gleich tun es ihm die Klitschko-Brüder – Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko, der bei seinem Besuch in Berlin Anfang April die Schweiz in die Pflicht nahm. Länder, die neutral seien und sich nicht auf die Seite der Ukraine stellten, hätten Blut an den Händen, betonte Klitschko. Vorgestern kritisierte der ukrainische Premierminister Denys Schmyhal in einer Videobotschaft an der Universität Zürich den Finanzplatz Schweiz. Und auch die ukrainische Botschaft in der Schweiz geizt nicht mit Anschuldigungen und Forderungen.
Es ist problematisch, wenn man dem Gaststaat vorwirft, er mache zu wenig oder er mache gewisse Dinge falsch.
Diese aggressive Informationsoffensive kommt nicht überall gut an. «Es gehört zur Rolle einer Botschaft, die Interessen des eigenen Landes im Gastland zu verteidigen», sagt der ehemalige Botschafter Erwin Hofer. Es gebe allerdings Bereiche, die eine Botschaft nicht tangieren sollte.
«Es ist problematisch, wenn man dem Gaststaat vorwirft, er mache zu wenig oder er mache gewisse Dinge falsch. Nicht akzeptabel ist es, wenn man bestimmte Unternehmen angreift, obwohl sie die von der EU beschlossenen Sanktionen vollumfänglich umsetzen.» Hofer verweist auf Nestlé. An einer Kundgebung im März stellte Selenski die Schweizer Firma für ihre Russland-Geschäfte an den Pranger.
Die Kommunikationsstrategie der Ukraine ist für Hofer mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung im diplomatischen Dienst aussergewöhnlich. «Mir sind keine Fälle bekannt, in denen eine Botschaft derart aggressiv an die Öffentlichkeit tritt», sagt der Jurist, der unter anderem in Russland, Serbien und Libyen als Schweizer Botschafter im Einsatz war.
Das birgt auch Risiken: Die derzeit grosse Solidarität mit der Ukraine könnte wegen der ukrainischen Informationsoffensive abflachen. «Wenn das neutrale Gastland Schweiz, das im Rahmen seiner Möglichkeiten viel macht, laufend kritisiert wird, könnte die Stimmung kippen. Ich schliesse nicht aus, dass plötzlich Solidarität mit angegriffenen Persönlichkeiten oder Unternehmen aufkommt», sagt Erwin Hofer.
Ukraine verteidigt Kommunikationsstrategie
Oleksiy Makeiv, der ukrainische Sonderbeauftragte für Sanktionen, ist derzeit zu Gesprächen in der Schweiz. Er verteidigt die Kommunikationsstrategie seines Landes: Es gehe darum, die Ukraine und Europa zu schützen und die Staaten zur Verschärfung der Sanktionen gegen Russland zu bewegen.
«Wir brauchen verschärfte Sanktionen, bis die Russen unser Land verlassen. Und wir brauchen finanzielle und humanitäre Hilfe für diejenigen, die von diesem barbarischen Vernichtungskrieg von Russland betroffen sind», betont Makeiv.
Auch die Schweiz müsse die Sanktionen gegen Russland verschärfen und eine aktivere Rolle in der Gestaltung der westlichen Sanktionspolitik spielen. Dem pflichtet Artem Rybchenko, ukrainischer Botschafter in der Schweiz, bei. Auf die Frage, ob die Kommunikationsstrategie der Ukraine nicht zu offensiv sei, antwortet er schlicht: «Ich kann Bilder zeigen aus der Ukraine. Und ich glaube, dann gibt es keine Fragen mehr.»