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Russlands Krieg gegen die nationale Identität der Ukraine
Aus Echo der Zeit vom 21.04.2022. Bild: Keystone
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Krieg in der Ukraine «Wenn die Ukraine nicht existiert, kann man alles mit ihr machen»

Russland und die Ukraine galten immer als Brudervölker. Beide Länder beziehen sich mit ihrer Geschichte auf die gleichen Wurzeln. Nun hat Russland die Ukraine angegriffen und stellt die Ukraine als eigenständige Nation infrage. Der britische Journalist und Forscher Peter Pomerantsev beobachtet im Land, in dem er selber Wurzeln hat, den Aufstieg von neuen Patrioten. Befeuert durch Putins Angriffskrieg.

Peter Pomerantsev

Peter Pomerantsev

Journalist, Autor und Forscher

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Der Journalist und Forscher Peter Pomerantsev beschäftigt sich seit langem mit der ukrainischen Identität und auch mit der russischen Propaganda, die der Ukraine ihre Eigenständigkeit abspricht. Der Brite mit ukrainischen Wurzeln lebt heute in den USA und forscht an der Johns Hopkins Universität in Baltimore.

SRF News: Hätten Sie Verbrechen von Russen an ihrem Quasi-Brudervolk für möglich gehalten?

Peter Pomerantsev: Ja, denn ich weiss genau, wie Russland sich in Russland selber aufführt. Das System basiert auf Erniedrigung und Unterdrückung. Seit langem ist es Putins ideologisches Ziel, die institutionelle Nachkriegs-Architektur und die Weltordnung nach dem Kalten Krieg zu zerstören. Er will die philosophischen Konzepte zertrümmern, die wir hochhalten, weil er glaubt, wir nützten diese Konzepte, um unsere Macht zu vergrössern. Wir hingegen denken, dass dies universelle Werte sind.

Dokumentation russischer Kriegsverbrechen

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Legende: Das zerstörte Theater von Mariupol. Keystone

Pomerantsev ist diese Woche von einer Forschungsreise aus der Ukraine zurückgekehrt. Dort sammelte er Zeugenaussagen zum Kriegsgeschehen mit dem Ziel, ein multimediales Archiv mit mündlich überlieferter Geschichte zu schaffen. Dieses sollen Menschen in Zukunft verwenden können, wenn sie sich mit der Ukraine beschäftigen, so etwa Dokumentarfilmer, Theaterautorinnen oder Journalisten.

«Im Zentrum stehen die grossen Kriegsverbrechen, zum Beispiel die Bombardierung des Theaters in Mariupol. Wir sprechen mit allen, die dabei waren, und arbeiten die Geschichte des Theaters auf. Und wir zeigen Parallelen auf zu anderen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit», erklärt der britische Forscher. Die Zeugnisse sollen auch für die juristische Aufarbeitung der Verbrechen von Nutzen sein.

Putin scheut keine Mühe, humanitäre Normen zu zerstören und zu zeigen, dass das ganze System, die Ideologie, die nach universellen Werten sucht, eine Illusion ist. Diese Gewalt ist nicht zufällig, sie ist zielgerichtet, gewollt und – es tut mir leid, das sagen zu müssen: Ihre Sinnlosigkeit ist voller Bedeutung.

Ist es nur Putin, der Mühe hat, die Ukraine als eigene Nation zu verstehen, oder ist das generell das russische Verständnis der Geschichte?

Putin ist gleichzeitig Symptom und Ursache all dessen. Er steht im Einklang mit einem grossen Teil der russischen Kultur und Gesellschaft. Aber er ist damit nicht ganz allein: Auch die deutsche Populär- und Politkultur nimmt die Ukraine nicht wirklich wahr. Die angelsächsischen Länder hatten lange Zeit ebenfalls ein schwammiges Bild der Ukraine. Das hat sich jetzt geändert. Die Vorstellung, dass die Ukraine nicht wirklich existiert, war aber sehr verbreitet, vor allem natürlich in Russland, aber auch in Europa und den USA.

Ukrainische Frauen bei Essensausgabe
Legende: Im Krieg in der Ukraine geht es nicht nur um Territorium, sondern auch um Identität. Der russische Angriffskrieg treibt einen tiefen Keil zwischen die historisch und kulturell verbundenen Völker. Keystone

Wenn die Ukraine nicht existiert, kann man alles mit ihr machen. Es ist einfacher für die Russen zu sagen, die Ukraine ist Fiktion, kein reales Land. Es ist auch einfacher, Falschinformationen zu verbreiten, wenn man kein klares Bild des Landes im Kopf hat – man kann sagen, ach, die Ukraine ist voller Nazis, Prostituierten und Korruption. So wird es für die Ukrainer zu einer Sicherheitsfrage, die Existenz ihres Landes ins allgemeine Bewusstsein zu rücken.

Russen und Ukrainer – wirkliche Brüdervölker?

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In einem früheren Projekt hat Pomerantsev erforscht, wie Russland in der Ukraine vor dem Krieg wahrgenommen wurde – sahen die Ukrainer die Russen damals als Brüder? «Es war anders vor dem Krieg», sagt der Brite mit ukrainischen Wurzeln. «Ich bin nicht sicher, ob die Metapher des Brudervolkes verwendet wurde, aber viele glaubten, dass die russische und die ukrainische Kultur eng miteinander verbunden, ja untrennbar waren.»

Als Vergleich zieht Pomerantsev das Verhältnis von Irland und England bei. Irland habe eine andere Geschichte, eine andere Tradition, war aber eng verbunden mit dem britischen Empire – einerseits als dessen Opfer, andererseits gehörten viele Vertreter der irischen Eliten auch zur Elite des «Empire». «Die Trennlinien werden so etwas unscharf. Ist Oscar Wilde ein englischer Schriftsteller oder ein irischer? Ist Bernard Shaw ein irischer Schriftsteller oder ein englischer? Das Gleiche im Fall der Ukraine: Ist Gogol ein ukrainischer Schriftsteller oder ein russischer? Es ist kompliziert.»

Für den Journalisten und Autor geht es in der Politik jedoch nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch um die Zukunft. «Und die Ukrainer haben sehr deutlich gemacht, dass sie sich für eine Zukunft entschieden haben, in der sie unabhängig sind.» Dieses Konzept hätten die Russen noch nicht verstanden.

Haben Sie eine Vorstellung davon, wie sich die Ukraine verändern wird durch diesen Krieg?

Ein Freund und Mitarbeiter von mir ist Soziologe aus Charkiw. Jetzt dient er als Soldat und schreibt auf, was er erlebt und sieht. Viele Dinge verändern sich – zunächst einmal die Vorstellung von Patriotismus und Heldentum. Viele der lautstärksten Patrioten, bekannte Intellektuelle, sind nach Lwiw im Westen des Landes gegangen. Und diejenigen, die jetzt Tag für Tag Charkiw verteidigen und sich aufopfern, sind zum Beispiel Strassenwischer oder lokale Bürokraten, sagt der Soziologe. Von ihnen wurde immer angenommen, dass sie nicht loyal sind gegenüber dem ukrainischen Projekt. Heute sind sie die grössten Patrioten.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski.
Legende: Das offensichtlichste Beispiel für die neuen Patrioten sieht Pomerantsev in Präsident Selenski: «Der neue Held des bewaffneten Widerstands gegen die russische Übermacht ist nicht mehr ein westukrainischer Partisane, sondern ein russisch-sprechender Jude aus der Zentralukraine. Das ist eine Revolution in der Typisierung ukrainischen Heldentums.» Keystone

Andererseits besteht bei jeder Gesellschaft, die im Krieg steht, die Gefahr der Brutalisierung, die Gefahr, die Menschlichkeit zu verlieren, von Rachegedanken zerfressen zu werden. Darüber hat Selenski viel gesprochen, als ich ihn letzte Woche interviewte. Es ist eine schwierige Frage: Wie schaffst du es, nicht bitter und hasserfüllt zu werden?

Das Gespräch führte Roger Brändlin.

Echo der Zeit, 21.04.2022, 18 Uhr;

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