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Krieg in der Ukraine Wie nahe ist das heutige Russland dem Faschismus, Karl Schlögel?

«Möge mein Haus unversehrt bleiben und dem Bösen widerstehen, das es zerstören will»: Seit Kriegsbeginn schickt die Ukrainerin Daryna Anastassiewa tönende Tagebuchaufzeichnungen an SRF. In eindringlichen, teilweise schwer zu ertragenden Worten schildert sie, wie sie und ihre Landsleute den Krieg erleben – und wie die Angst zum Alltag geworden ist.

Im Westen ist derweil klar, wer für den Krieg in der Ukraine die Verantwortung trägt: Russland hat angegriffen, will die Ukraine völkerrechtswidrig beherrschen und begeht zahllose Kriegsverbrechen. Doch ist das die ganze Geschichte? Ein Gespräch mit dem führenden Osteuropa-Historiker des deutschsprachigen Raums, Karl Schlögel.

Karl Schlögel

Osteuropa-Historiker

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Der deutsche Historiker (geboren 1948) war Professor und Dozent für Osteuropäische Geschichte an mehreren Universitäten. Er ist auch Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher und wurde für sein Werk mehrfach geehrt. Schlögel hat dieses Frühlingssemster ausserdem die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur an der Universität Bern inne.

SRF News: Ist es richtig, Russland als «das Böse» zu bezeichnen?

Karl Schlögel: Wir haben uns ja abgewöhnt, von «dem Guten» oder «dem Bösen» zu sprechen, weil wir alle sehr aufgeklärte Menschen sind. Wenn jetzt von «den Bösen» gesprochen wird, ist die Rückkehr einer Dimension von Gewalttätigkeit und Bösartigkeit gemeint, auf die ich und meine Generation nicht mehr gefasst waren. Deswegen halte ich es für vollständig legitim, von «den Bösen» in diesem fast schon monumentalen Sinn zu sprechen.

Was die Geschichte und Genese dieses Konfliktes angeht, glaube ich, dass es eine historische Erklärung dafür gibt. Ich lehne es aber ab, zu sagen, dass der Krieg, der schon mit der Besetzung der Krim entfesselt worden ist, das unvermeidliche Resultat einer geschichtlichen Entwicklung ist. Es hängt an Umständen, an Personen, an dem, was man in der Geschichtsschreibung «Kontingenz» nennt: Es müssen verschiedene Dinge zusammenkommen, die auf unserem Radarschirm der Zeit nach 1989 nicht vorgesehen waren.

Derzeit hört man immer wieder den Begriff «Raschismus», eine Wortschöpfung aus den englischen Begriffen «Russia» und «Fascism». Wie nahe ist das heutige Russland dem Faschismus?

Ich zögere nicht zu sagen, dass Russland eine faschistische Politik macht. Ich zögere nicht, es als faschistisch zu bezeichnen. Ich tue es trotzdem nicht. Es ist zu bequem, sich auf Begriffen auszuruhen. Wir sind mit einem neuen Phänomen konfrontiert, das es zu analysieren gilt. Ich bin der Auffassung, dass man bisher analytisch überfordert damit war, zu beschreiben, um was für ein Phänomen es sich beim Putinismus handelt. Es ist eine Formation, die es welthistorisch noch nicht gab.

Vielleicht dachten wir 1989 noch, dass sich alles irgendwie in Wohlgefallen auflösen würde. Die Geschichte ist aber eher so gelaufen, wie sie der alte Schweizer Historiker Jacob Burckhardt betrachtete: dramatisch, wild, katastrophisch.

Die Auflösung von Imperien erstreckte sich über Jahrzehnte. Die Auflösung eines Kontinentalimperiums gab es aber noch nie. Ebenso wenig wie die Auflösung einer sozialen Formation wie der Sowjetunion, die auf Staats- und Volkseigentum beruhte und dann in einen wahnsinnigen Prozess der Privatisierung hinübergegangen ist. Es gab auch nie eine Formation, in der man sich gleichzeitig in den Heiligenschein der orthodoxen Kirche und der postmodernen Relativierung begeben konnte, in der man das ganze Ensemble der Künste Hollywoods bedient.

Karl Schlögel
Legende: Der Osteuropa-Historiker sieht auch Versäumnisse des Westens im Umgang mit Putins Russland: «Bei der Frage, was wir seit dem Angriff auf die Ukraine im Jahr 2014 hätten tun sollen, wurde die Rolle der ‹Soft Power› unterschätzt.» Imago Images

Was meinen Sie konkret damit, dass es mit der Auflösung dieses Reiches etwas Neues zu analysieren gibt?

Es geht dabei nicht nur um das Ende der Sowjetunion, sondern um die Auflösung eines Blocks, der sich über Jahrhunderte aufgebaut hat. Die Sowjetunion war in gewisser Weise die modernisierte Fassung des alten Zarenreiches. Es sind sehr tiefe und gravierende Strukturen. Ich selber habe in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren miterlebt, was es bedeutet, wenn ein grenzenloses Imperium plötzlich mit neuen Grenzen versehen wird.

Was in Russland passiert, ist Sache der Bürgerinnen und Bürger der Russischen Föderation. Wir aber müssen uns darauf gefasst machen, dass wir uns schützen, verteidigen und Grenzen aufzeigen, die nicht überschritten werden dürfen.

Putin hat immer von der grössten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts gesprochen – diese Dramatik ist mir sehr klar. Vielleicht dachten wir 1989 noch, dass sich alles irgendwie in Wohlgefallen auflösen würde. Die Geschichte ist aber eher so gelaufen, wie sie der alte Schweizer Historiker Jacob Burckhardt betrachtete: dramatisch, wild, katastrophisch.

Wenn Sie in diesem Zusammenhang von «Putinismus» sprechen: Was bleibt, wenn Putin einmal weg ist?

Das wissen wir nicht. Es handelt sich um eine grosse, in sich ruhende Formation, die wahrscheinlich ungeheure destruktive Kräfte freisetzen wird. In der russischen Diaspora läuft die Diskussion darüber, ob sich die Russische Föderation auflösen wird, wenn Putin weg ist. Wird es plötzlich Gebiete im Süden geben, in denen die Scharia herrscht? Wird es unglaublich reiche Staaten geben, in denen Öl und Gas gefördert wird? Wird sich der «Planet Moskau» in diesem Gebilde halten können? Das alles ist vollständig offen. Was in Russland passiert, ist Sache der Bürgerinnen und Bürger der Russischen Föderation. Wir aber müssen uns darauf gefasst machen, dass wir uns schützen, verteidigen und Grenzen aufzeigen, die nicht überschritten werden dürfen.

Welchen Platz wird der Krieg in der Ukraine einmal in der Geschichte einnehmen?

Es wird ein ganz grosser Einschnitt sein. Leute meiner Generation haben sich eigentlich auf ihr Spätwerk eingerichtet. Sie sind plötzlich damit konfrontiert, dass die ganze Welt, die sie sich zurechtgedacht hatten, durcheinandergeht. Alles wird neu aufgestellt. Andererseits ist es eine Zeit des Neu-Nachdenkens, des Neu-Bedenkens – und auch des Neu-Anfangens des Nachdenkens. Es ist also auch Chance und nicht blosse Verzweiflung.

Das Gespräch führte Roger Brändlin.

Echo der Zeit, 24.02.2023, 18 Uhr ; 

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