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Kriegspropaganda von Russland «Es ist an Diffamierung nicht zu übertreffen»

Der Westen beobachtet einen brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine – der Kreml und russische Medien sprechen von einer «militärischen Spezialoperation zur Entnazifizierung der Ukraine». Es gelte, die russisch sprechende Bevölkerung von den ukrainischen «Faschisten» zu befreien. Frithjof Benjamin Schenk, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel, warnt davor, diesem Narrativ Glauben zu schenken.

Frithjof Benjamin Schenk

Professor an der Universität Basel

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Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk ist seit 2011 Professor für Osteuropäische Geschichte und Neuere Allgemeine Geschichte am Departement Geschichte der Universität Basel. Er ist 1970 in Stuttgart geboren und hat an der FU Berlin promoviert. Forschungsaufenthalte führten in unter anderem auch nach St. Petersburg und Moskau.

SRF News: Putin spricht davon, die Ukraine vom Faschismus zu befreien. Was ist davon zu halten?

Frithjof Benjamin Schenk: Man muss zunächst deutlich machen, dass es sich um ein Element des russischen Propaganda-Narrativs handelt. Russland versucht, seinen Angriffskrieg mit verschiedenen Argumenten zu rechtfertigen: der angebliche Genozid, der an der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine vollbracht wird, die Legende von der Bedrohung Russlands durch die Nato und dann die These, man müsse ein faschistisches Regime stürzen. Und diese drei Narrative werden uns aufgedrückt im Westen, um diesen Angriffskrieg irgendwie plausibel zu machen und zu rechtfertigen. Ich halte alle drei Argumente für so unverschämt, dass mir dafür die Worte fehlen.                

Es gibt also nichts zu «entnazifizieren»?  

Nein. Die Ukraine ist das Land in Europa, welches am meisten unter dem Horror des deutschen Vernichtungskrieges im Zweiten Weltkrieg zu leiden hatte. Fast die gesamte jüdische Bevölkerung der Ukraine wurde während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg ermordet – und die Ukrainer haben an der Seite der anderen sowjetischen Soldaten gegen den Faschismus gekämpft und Europa davon befreit. Die Nachfahren dieser Menschen heute als Faschisten zu diffamieren, ist ungeheuerlich.

Die ukrainische Regierung ist demokratisch gewählt – und an ihrer Spitze steht ein Präsident mit jüdischen Wurzeln. Dass man nun einer solchen Regierung unterstellt, sie sei faschistisch, ist unverschämt.

Die ukrainische Regierung ist zudem demokratisch gewählt – und an ihrer Spitze steht ein Präsident mit jüdischen Wurzeln. Dass man nun einer solchen Regierung unterstellt, sie sei faschistisch, ist genauso unverschämt. Dazu kommt die masslose Übertreibung von rechtsradikalen Kräften in der Ukraine. Dieses Argument kennen wir aus der russischen Propaganda seit 2014. 

Wie steht es da um das sogenannte «Regiment Asow», offen rechtsextreme Paramilitärs in der Ukraine?  

Dieses Bataillon hat während der ersten Phase des Krieges 2014 eine gewisse Rolle gespielt, als die ukrainische Armee nicht so organisiert war wie heute. Diese Selbstverteidigungs-Einheiten, die nicht unter der vollen Kontrolle des ukrainischen Staates standen, gab es – aber das war vor acht Jahren. Seither ist viel passiert. Die Streitkräfte haben sich konsolidiert und organisiert. Heute spielen die Bataillone nur noch eine marginale Rolle.

Stepan Bandera – die umstrittenste Figur der Ukraine

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Die Statue von Stepan Bandera in Lwiw.
Legende: Die Statue von Stepan Bandera in Lwiw.

Ukrainische Ultranationalisten berufen sich auf ihn: Stepan Bandera. Der Unabhängigkeitskämpfer und seine Milizen haben im Zweiten Weltkrieg mit den deutschen Truppen gegen die Sowjetunion gekämpft und waren auch an der Ermordung von Juden beteiligt. Nach ihm sind in der Ukraine Strassen benannt und in Lwiw steht eine grosse Statue von Stepan Bandera.

Auch Frithjof Benjamin Schenk betrachtet Bandera als problematische historische Figur:

«Vorwiegend in der Westukraine hat die sogenannte Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) ein gewisses Ansehen, weil man die Sowjetherrschaft, die sich nach dem Ende des Bürgerkrieges in den 1920er-Jahren in der Ukraine etablierte, immer als Okkupation erlebt hat und weil man in den Kräften, die gegen diese sowjetische Fremdherrschaft gekämpft haben, Figuren sieht, an denen man sich heute noch orientiert.

Das ist hochproblematisch, genauso wie die Stilisierung von Bandera zu einem nationalen Freiheitshelden. Es wird in der historischen Forschung auch genauso thematisiert.

Das Problem ist auch nicht schönzureden, aber daraus ein grosses Thema zu machen und zu sagen, dass die gesamte Ukraine durchsetzt sei von Faschisten und jenen, die diesem ukrainischen Nationalisten der 1930er Jahre huldigen, das ist eine masslose Übertreibung.»

Sind rechtsextreme Gruppierungen in der Ukraine also vernachlässigbar? Bei den Wahlen erreichen sie kaum zwei Prozent.  

Die Ukraine hat – genauso wie andere europäische Länder – auch am äussersten rechten politischen Rand extremistische Gruppen. Da ist die Ukraine keine Ausnahme, da ist aber auch Russland keine Ausnahme, wie auch nicht die Schweiz, Deutschland oder Belgien. Aber wem käme es denn in den Sinn, wegen einer kleinen marginalen Splittergruppe Belgien zu überfallen, mit dem Ziel, Belgien entnazifizieren zu wollen? 

Wir sollten sehr, sehr vorsichtig sein, solche Narrative überhaupt ernst zu nehmen. Sie gleichen den Narrativen, mit denen andere Angriffskriege in Europa gerechtfertigt wurden – zum Beispiel der deutsche Überfall auf Polen 1939.

Die angeführte Befreiung der Ost-Ukraine von Angriffen der «Faschisten» ist also absurd?  

Es ist nicht nur absurd, es ist an Diffamierung nicht zu übertreffen. Wir sollten sehr, sehr vorsichtig sein, solche Narrative überhaupt ernst zu nehmen. Sie gleichen den Narrativen, mit denen andere Angriffskriege in Europa gerechtfertigt wurden – zum Beispiel der deutsche Überfall auf Polen 1939. Es ist perfide Kriegspropaganda und soll vertuschen, dass es eigentlich um ganz andere Motive geht. Um das klarzustellen: Nein, es gab keinen Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass. Nein, die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine wurde nicht Opfer eines Völkermords. Die ukrainische Regierung tut nichts anderes, als die territoriale Integrität ihres Landes zu verteidigen.  

Putin bezeichnet einfach alle, die gegen ihn sind als Faschisten, so wie den jüdischen Präsidenten Selenski?  

Seit 2014 läuft im russischen Staatsfernsehen von früh bis spät nur die eine gleiche Geschichte, nämlich dass die Ukraine beherrscht werde von einer faschistischen Junta und dass die russischsprachige Bevölkerung im Osten des Landes Opfer eines Genozids durch diese Junta werde. Das ist die perfide Kriegspropaganda der russischen Regierung, die in Russland von vielen Menschen geglaubt wird. Man weigert sich leider in der breiteren russischen Bevölkerung dieses Narrativ zu hinterfragen.

Das Gespräch führte Matthias Schmid.

Echo der Zeit, 4.3.2022, 18 Uhr ; 

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