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Kriminelle Banden in Haiti «Im besten Fall wird man in Port-au-Prince ‹nur› ausgeraubt»

Vor einem Jahr wurde in Haiti der Premierminister Jovenel Moïse ermordet. Der Mord ist noch nicht aufgeklärt und Haiti versinkt im Chaos. Das Land sei destabilisiert, sagt die freie Journalistin Sandra Weiss. Die Menschen seien froh, dass auch in den USA ermittelt werde.

Sandra Weiss

Journalistin in Mexiko

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Die gebürtige Deutsche lebt und arbeitet seit 1999 als Journalistin in Lateinamerika. Sie berichtet von dort aus für diverse deutschsprachige Medien.

SRF News: Wie zeigt sich die Destabilisierung Haitis konkret?

Sandra Weiss: Ganze Stadtteile der Hauptstadt Port-au-Prince sind unter Kontrolle krimineller Banden. Dort kassieren sie Schutzgelder und errichten Strassenbarrikaden brennenden Autoreifen, an denen sie die Vorbeifahrenden kontrollieren.

Wenn man Widerstand leistet, wird man schnell erschossen.

Wer an so eine Strassensperre kommt, wird bestenfalls nur ausgeraubt. Hat man Pech, wird man entführt und dann wird Lösegeld erpresst. Wenn man Widerstand leistet, wird man schnell erschossen. Das ist leider einem bekannten Arzt von mir passiert, der sein Auto nicht sofort übergab. Sicherheitsexperten schätzen, dass ungefähr 60 Prozent des Gebietsder Hauptstadt Port-au-Prince von Banden kontrolliert werden.

Ist es in so einer Situation überhaupt möglich, den Mord an Präsident Moïse aufzuklären?

Es ist sehr schwierig. Kürzlich wurde wieder in dem Gericht eingebrochen, das diesen Fall aufklären sollte. Banden hielten tagelang das Gerichtsgebäude besetzt. Mittlerweile ist schon der fünfte Ermittlungsrichter an dem Fall dran. Die anderen sind zum Teil zurückgetreten oder wurden abgesetzt. Aber es gibt glücklicherweise parallele Ermittlungen in den USA, weil der Mordanschlag ganz oder zumindest teilweise in Miami geplant wurde. Dort hat man inzwischen drei Personen festgenommen, die nachweislich in das Komplott verwickelt waren und zum Teil auch ihre Beteiligung gestanden haben.

Der ursprüngliche Auftrag lautete, den Präsidenten ausser Landes zu fliegen.

Da ist zum einen ein haitianisch-amerikanischer Drogenhändler, der die Waffen besorgt hat, ein haitianischer ehemaliger Senator aus einer oppositionellen Partei, der die ganze Logistik finanziert hat. Er bezahlte die Söldner und deren Ausrüstung. Weiter ist da der Chef des kolumbianischen Söldnerkommandos, das in der Tatnacht beteiligt war. Er hat ausgesagt, dass der ursprüngliche Auftrag lautete, den Präsidenten ausser Landes zu fliegen, dass er aber kurz vorher einen Mordbefehl vom damaligen Geheimdienstchef erhalten habe.

Was bringt es der haitianischen Gesellschaft, wenn der Mord im Ausland untersucht wird?

Der Mord an Moïse hat eine grosse Entrüstung und grosses Entsetzen bei den Haitianern hervorgerufen. Der Wunsch ist gross, dass dieser Fall aufgeklärt wird und dass die Auftraggeber einer solchen Schandtat nicht straflos davonkommen. Wichtig ist, dass sie aus dem Verkehr gezogen werden und nicht dafür belohnt werden und eventuell später an die Macht kommen. Die Haitianer wissen sehr genau, dass ihre Institutionen viel zu schwach sind, um so etwas zu leisten. Daher sind die meisten froh, dass der Fall in den USA aufgerollt wird.

Demonstrierende fordern, dass Ex-Präsident Bertrand Aristide wieder in Haiti an die Macht kommt.
Legende: Demonstrierende fordern, dass Ex-Präsident Bertrand Aristide wieder in Haiti an die Macht kommt. Keystone

Wenn das Gericht in den USA die Schuldigen ausfindig machen kann, wird das Haiti stabilisieren?

Es wäre ein wichtiges Zeichen dafür, dass es selbst in so einem fragilen Staat wie Haiti Grenzen des Erlaubten gibt. Neu gibt es auch eine Gruppe, die nennt sich das Montana-Abkommen. In dieser sind viele Intellektuelle, Geschäftsleute, junge Exil-Haitianer. Es ist eine ganze Bewegung, die sich mit dem Interimspremierminister Ariel Henry trifft. Sie verhandeln über Auswege aus der Krise. Es geht dabei um eine neue Verfassung, darüber, wie man und wann man Neuwahlen abhalten kann. Doch die Voraussetzung ist, dass der Mord aufgeklärt wird.

Das Gespräch führte Adam Fehr.

 

SRF 4 News, 07.07.20222, 08:38 Uhr ; 

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