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Lage in Afghanistan Gewalt von den Taliban: «Vor allem die Frauen sind sehr besorgt»

Als «Katastrophe und Albtraum» bezeichnet der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell die Entwicklungen in Afghanistan. Seit der Machtübernahme durch die Taliban seien über 100 EU-Mitarbeiter und 400 Afghanen, die für die EU gearbeitet hätten, nach Europa gebracht worden. Rund 300 weitere versuchten Kabul zu verlassen. Die Angst vor Gewalt durch die Taliban steige, sagt Konfliktforscher Florian Weigand.

Florian Weigand

Konfliktforscher

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Der Konfliktforscher Florian Weigand ist Co-Direktor des «Centre for the Study of Armed groups» und damit Teil der Londoner Denkfabrik Overseas Development Institute ODI.

SRF News: Was wissen Sie bisher über die Gewalttaten der Taliban?

Florian Weigand: Es gibt vereinzelte Meldungen über Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung. Nach den gestrigen Protesten in den Ostprovinzen Nangarhar und Kunar liegen bestätigte Berichte über zwei Todesfälle vor. Vieles lässt sich derzeit noch nicht bestätigen. Bisher scheint es sich um vereinzelte Fälle zu handeln. Die Sorge der Bevölkerung ist natürlich gross, dass sich die Gewalt ausbreitet.

Bärtige Männer halten übermalte Werbeplakate mit lächelnden Frauen hoch. Werden die Frauen nun wieder ganz aus dem öffentlichen Leben verbannt?

Viele Menschen in Afghanistan und vor allem die Frauen sind sehr besorgt. Die Plakate wurden allerdings bereits übermalt, bevor die Taliban in die Stadt kamen. Die Menschen haben sich darauf eingestellt und vorbereitet, dass sich ihr Lebensstil wieder ändern könnte.

Man sieht auch andere Bilder. So hat ein TV-Hauptnachrichtensender einen Taliban-Kommandanten durch eine Frau interviewen lassen. Es gibt auch weiterhin Journalistinnen auf der Strasse. Momentan versuchen die Taliban, sich sehr liberal porträtieren zu lassen. Wie das aussieht, wenn die internationale Gemeinschaft abgezogen ist, ist noch nicht absehbar.

Samira Asghari, Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, fleht die USA an, afghanische Top-Athletinnen und deren Trainer zu evakuieren. Wachsen auch hier die Befürchtungen?

Momentan ist die Lage nach wie vor relativ ruhig. Auch in der Hauptstadt Kabul, wo das Ausland vor allem die chaotischen Bilder vom Flughafen zu sehen bekam. Gerade im Ausland, das weniger über das alltägliche Leben weiss, sind die Befürchtungen für die Zukunft womöglich noch grösser.

Ich verstehe aber insbesondere jede Frau, die Angst hat und aus dem Land will. Für die internationale Gemeinschaft, die über 20 Jahre im Land investiert und Hoffnungen aufgebaut hat, besteht meiner Ansicht nach auch eine moralische Verantwortung für diese Menschen und zur Aufnahme von Schutzsuchenden.

Im Pandschir-Tal im Norden formiert sich militärischer Widerstand um Ahmad Massoud, den Sohn des früheren Mudschaheddin-Kämpfers Massoud. Welche Chancen hat er?

Pandschir ist eine kleine Provinz nahe bei Kabul. Die Pandschiri sind sehr stolz, dass sie der Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 trotzen konnten. Möglich, dass sie das nun wieder versuchen. Allerdings sind die Taliban jetzt bis an die Zähne bewaffnet. Sie haben das gesamte Waffenarsenal der afghanischen Armee samt Helikoptern geerbt, auch wenn sie diese vermutlich noch nicht fliegen können.

Die Frage wird sein, wie sich die anderen Länder in der Region positionieren und ob es eventuell Unterstützung für die Pandschiri gibt. Und ob es allenfalls Aufstände von Unzufriedenen in anderen Teilen Afghanistans gibt, die Allianzen gegen die Taliban bilden. Das ist durchaus möglich. Aber momentan ist Pandschir eine sehr kleine Insel in einen relativ grossen, von den Taliban regierten Land.

Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.

Rendez-vous, 19.08.2021, 12:30 Uhr ; 

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