Zum Inhalt springen

Martin Naville über Joe Biden «Ich erwarte keine sozialistischen Lösungen»

Die Wall Street hat Joe Biden gestern mit neuen Rekorden begrüsst. Im Kampf gegen die Corona-Krise ist ein milliardenschweres Finanzpaket auf dem Weg. Weitere wichtige Konjunkturmassnahmen sind geplant. Zudem sollen die Bundesstaaten und Kommunen mit den entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestattet werden. Wie soll das aber finanziert werden? Folgt auf das Konjunkturprogramm eine saftige Steuererhöhung? Martin Naville nimmt Stellung.

Martin Naville

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Martin Naville ist seit 2004 CEO der Schweizerisch-Amerikanischen Handelskammer. In dieser Funktion bemüht er sich um gute Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern.

SRF News: Martin Naville, wie reagieren wirtschaftsfreundliche, konservative Kreise auf die ersten Schritte des demokratischen US-Präsidenten Joe Biden?

Martin Naville: Im Grossen und Ganzen sieht man das positiv. Vor den Wahlen hatten die Konservativen eine blaue Welle befürchtet, will heissen: Dass die progressiven Linken Joe Biden vor sich hertreiben könnten und er Amerika dann umbauen würde, in einer sehr linken Art und Weise. Heute wissen wir: Es gab keine blaue Welle. Die Verhältnisse im Kongress sind sehr, sehr knapp. Und: Biden hat ein Kabinett von Profis zusammengestellt, die nicht populistisch oder ideologisch agieren. Kurz: Ihre Arbeit wird nicht das Ende der Welt bedeuten. Es wird sehr positiv weitergehen.

Konservative sagten immer wieder: Mit Biden komme der Sozialismus. Welche Wirtschaftspolitik erwarten Sie jetzt im Inland?

Im Senat sind die Verhältnisse 50:50. Und jeder Demokrat hat eigentlich ein Vetorecht: Wenn jemand gegen die eigene Regierung stimmt, verlieren die Demokraten. Es gibt viele wirtschaftsfreundliche Demokraten, die sogenannten Blue Dogs.

Ich erwarte aus der Administration Biden und dem Parlament keine sozialistischen Lösungen.

Ich erwarte aus der Administration Biden und dem Parlament keine sozialistischen Lösungen. Ihre Programme werden sicher leicht anders sein als unter Donald Trump – aber sicher sehr vernünftig und ohne soziale Revolution.

Was erwarten Sie in Sachen Steuern? Und welche Massnahmen erwarten Sie als Erstes?

Es wird sicher zuerst ein weiteres Covid-Paket geben, mit sehr viel Geld. Dieses wird die Verschuldung weiter verschärfen. Janet Yellen, die langjährige Notenbank-Chefin und neue Finanzministerin, sagte vorgestern im Senat: Die Steuersenkungen der Administration Trump seien gut gewesen für die Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Wirtschaft. Und Steuererhöhungen wären sicher nicht das Erste, dass die neue Regierung tun werde. Das zeigt die pragmatische Haltung der neuen Crew.

Zur Wirtschaftspolitik: Was erwarten Sie dort?

Im Gesundheitsbereich braucht es Verbesserungen, es muss repariert werden – und das darf auch etwas kosten, weil es Investitionen bringt für die Health-Care-Industrie.

Im Moment können wir gut leben mit ihm.

Es wird sicher eine Anpassung der Steuern geben. Und vor allem ein Covid-Paket – in der Höhe von umgerechnet 40 Milliarden Schweizer Franken. Das ist ein grosses Investitionspaket für die amerikanische Wirtschaft.

Das heisst: Wirtschaftsliberale können gut leben mit Joe Biden als Präsident?

Im Moment können wir gut leben mit ihm, weil Biden relativ wenig Bewegungsfreiheit hat wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse im Kongress. Wir werden sehen, was in zwei Jahren nach den Halbzeitwahlen kommen. Wir haben eine gewisse Angst, dass Elizabeth Warren und Bernie Sanders in den Kulissen warten, mit einem revolutionär-linken Umbau-Programm. Aber ich denke, en gros, wird er seine Arbeit sehr pragmatisch und vernünftig angehen.

Schauen wir noch auf die internationale Wirtschaftspolitik. Was sollte Joe Biden dort tun?

Amerika repräsentiert ein Viertel der Weltwirtschaft – und etwa 40 Prozent der freien Weltwirtschaft. Und es ist unendlich wichtig, dass sich die USA in den multinationalen Organisationen wieder engagieren. Wirtschaftlich gesehen, natürlich in der Welthandelsorganisation WTO, aber auch in der Telekom-Union oder beim internationalen Patentamt. Die USA müssen das Vakuum wieder zu füllen versuchen, welches Trump mit seinem Rückzug dort hinterlassen hat – und welches von China teilweise schon gefüllt worden ist. Wir müssen unsere liberalen Werte hochhalten. Das ist unglaublich wichtig.

Sie sprechen China an. Warum ist es entscheidend, dass sich die USA in der WTO wieder stärker einbringen?

Es gibt viele Regeln, die wir im Westen etabliert haben – zum Schutz von Mitarbeitern, Konsumenten, Firmen, Pensionskassen. Doch: Diese Regeln schützen nicht nur, sie kosten etwas, sie behindern und belasten die Unternehmen. Die chinesischen Unternehmen sagen: Das sind nicht unsere Regeln und halten sich nicht daran – sei das beim Monopolverbot oder bei Bestechungen im Ausland. Wenn chinesische Firmen ihre so produzierten Produkte bei uns auf den Markt bringen, haben sie einen Wettbewerbsvorteil – gegenüber unseren westlichen Firmen, die sich an alle Regeln halten. Wir brauchen hier reziproke, faire Lösungen. Und die finden wir nur mit Hilfe der USA.

Joe Biden will in Bälde zu Handelsfragen Stellung beziehen. Was erwarten Sie?

Schwer zu sagen. Ich sehe zwei Bereiche: Freihandelsabkommen und Zölle. Er wird sicher ein paar wenige Zölle aufheben, vor allem beim Stahl und Aluminium – mit Partnerländern wie Australien, Kanada, Mexiko – und auch mit der Schweiz, hoffe ich. Das andere sind die Freihandelsabkommen. Da sehe ich in der demokratischen Partei wenig Appetit für Freihandelsabkommen, gegenwärtig. Aber sicher wird er überlegen, wie die USA mit Europa, mit Grossbritannien und ein paar anderen Ländern die Beziehungen vertiefen kann. Ob das dann auch realisierbar sein wird, ist schwer zu sagen.

Donald Trump hat vor den Wahlen viel Zuspruch bekommen, wegen seiner Wirtschaftskompetenz. Wie sieht dies bei Joe Biden aus?

Joe Biden ist ein sehr pragmatischer, gradliniger, ehrlicher Politiker, der in den letzten 50 Jahren eine vernünftige Politik betrieben hat. Die Angst ist eher, wen er im Rücken hat: Elizabeth Warren, Bernie Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez – sehr progressive Kräfte, die sich seinen pragmatischen Lösungen widersetzen könnten. Im Moment sieht es sehr positiv aus. Ob dies längerfristig so bleiben wird, ist unklar. Und da gibt es Ängste in der amerikanischen Wirtschaft, aber auch in Unternehmen in anderen Ländern.

Zum Schluss: Was heisst der Amtsantritt von Joe Biden für die Schweizer Wirtschaft?

Für die Schweiz heisst dies relativ wenig. Der Erfolg der Schweizer Unternehmen ist nicht abhängig, ob es ein Demokrat oder ein Republikaner Präsident ist. Der Erfolg basiert eher auf einer sehr grossen Erfahrung unserer Firmen auf dem amerikanischen Markt. Wir haben viele Direktinvestitionen. Es gibt keinen Grund, weshalb dieser Erfolg nicht weitergehen wird – unter Joe Biden.

Das Gespräch führte Viviane Manz.

Tagesschau 21.1.21 19.30 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel