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Migration über Belarus in EU Lukaschenkos Erpressungsversuch wird auch für ihn gefährlich

Die angelockten Migranten an den gesperrten EU-Grenzen könnten für den Despoten zum Problem werden, sagt ein Beobachter.

Wie viele Migranten und Flüchtlinge an den Grenzen von Belarus zu Polen und Litauen festsitzen, weiss niemand. Denn das ist ein Niemandsland unter der Kontrolle der belarussischen Sicherheitsdienste. Informationen dringen kaum nach draussen.

«Wir kennen weder ihre Namen noch ihre Zahl, sie können in den Wäldern an der Grenze an Kälte, Hunger oder an einer Krankheit zugrunde gehen, und niemand wird je etwas davon erfahren», sagt der belarussische Politbeobachter Vadim Moschejko.

Wir kennen weder ihre Namen noch ihre Zahl, sie können in den Wäldern an der Grenze an Kälte, Hunger oder an einer Krankheit zugrunde gehen, und niemand wird je etwas davon erfahren.
Autor: Vadim Moschejko Belarussisches Institut für Strategie-Forschung BISS

Die Zahl von sieben Toten, die verschiedentlich genannt wurde, sei bestimmt zu niedrig, ergänzt Moschejko, der für das Belarussische Institut für Strategie-Forschung «BISS» arbeitet. Insgesamt seien in den Grenzgebieten schätzungsweise mehrere Hundert bis mehreren Tausend Menschen unterwegs.

Sie hatten der belarussischen Propaganda geglaubt und erwartet, problemlos die Grenze zur EU überqueren zu können. Doch Polen, Litauen und Lettland haben Grenzzäune errichtet und weisen die Menschen ab.

Grüne Grenze Belarus-Polen.
Legende: Freiwillige Ärzte helfen am 23. Oktober 2021 fünf syrischen Migranten in schlechter körperlicher Verfassung, die illegal die grüne Grenze von Belarus nach Polen überquerten. imago images

Eskalation jederzeit möglich

Eine brandgefährliche Situation, so Moschejko: «Stellen wir uns die Grenze vor, zu Polen, im Wald. Der Grenzzaun wird bewacht von polnischen Militärs. Auf der anderen Seite stehen belarussische Sicherheitskräfte, die vor nichts zurückschrecken. Dazwischen harren verzweifelte Männer, Frauen und Kinder aus. Wenn diese kranke Situation noch lange andauert, kann sie ernsthaft eskalieren.»

Wenn diese kranke Situation noch lange andauert, kann sie ernsthaft eskalieren.
Autor: Vadim Moschejko Belarussisches Institut für Strategie-Forschung BISS

Tatsächlich kam es bereits zu Schiessereien, die allerdings glimpflich verliefen. Ausserdem haben Migranten mehrfach versucht, die provisorischen Grenzzäune gewaltsam niederzureissen.

Ein Eigentor für Lukaschenko?

Moschejko hat Hinweise darauf, dass die belarussischen Behörden inzwischen aber nicht mehr so viele Menschen aus dem Nahen Osten und Afrika ins Land lassen wie auch schon: Eben weil es diesen nicht mehr gelingt, in grosser Zahl in die EU zu gelangen.

Die Perspektive, dass Tausende Flüchtlinge und Migranten längerfristig im Land blieben, sei nicht im Interesse von Lukaschenko, betont Moschejko: «Im Gegenteil, das wird zur Bedrohung seiner Macht.»

Deshalb nehme die Zahl der Neuankömmlinge ab. Gefruchtet haben auch die Bemühungen der EU, vor Ort im Irak und in der Türkei einen Stopp der Flüge nach Belarus zu erwirken.

Das Ziel des Gewaltherrschers

Doch warum hat Lukaschenko diese Ereignisse überhaupt in Gang gebracht? Das Regime habe in Polen und Litauen innenpolitische Krisen hervorrufen wollen, erklärt Moschejko – mit dem Ziel, die Länder zu Verhandlungen mit ihm zu zwingen. Ausserdem habe er die EU in Ost und West spalten wollen.

Doch das funktionierte nicht, weil Litauen und Polen die Grenzen rasch dichtmachten und befestigten. In Belarus aber sind die gestrandeten Fremden sichtbar, viele lagern auf den Strassen oder in improvisierten Camps, wie Moschejko sagt. Das löse in der Bevölkerung Unmut aus.

Das «Grundproblem» bleibt

Hilfe für die Gestrandeten gibt es kaum, denn die Hilfsorganisationen sind zerschlagen, weil das Regime sie als Feinde betrachtet: «Überhaupt: Die Fremden gelten in offizieller Lesart als Touristen und nicht als Flüchtlinge, die Hilfe benötigen. Auf längere Sicht werden sie wohl ausgeschafft», schätzt der Politbeobachter.

Das ‹Grundproblem Lukaschenko› bleibt. Er ist zum Äussersten fähig und wird neue Mittel der Erpressung finden.
Autor: Vadim Moschejko. Belarussisches Institut für Strategie-Forschung BISS

Deswegen werde sich die Lage für die EU aber längerfristig nicht entspannen, so Moschejko: «Denn das ‹Grundproblem Lukaschenko› bleibt. Er ist zum Äussersten fähig und wird neue Mittel der Erpressung finden.» Die Krise habe deutlich gezeigt, dass das Regime Lukaschenko ein Problem nicht nur für Belarus sei, sondern für ganz Europa und eine Bedrohung der regionalen Sicherheit.

Rendez-vous, 27.10.2021, 12:30 Uhr

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