Es begann im Herbst 2021. Das belarussische Regime hatte Migranten und Flüchtlinge ins Land gelockt. Mit Unterstützung der belarussischen Behörden versuchten diese in die EU zu gelangen. So wollte das Regime Druck auf die EU ausüben. Die betroffenen Grenzländer Polen, Litauen und Lettland verstanden dies als Bedrohung der inneren Sicherheit. Man machte die Grenzen möglichst dicht und drängte die Menschen zurück.
Marija Golubeva war damals lettische Innenministerin. Sie sagt rückblickend: Man habe die Grenzen kontrollieren und das Land schützen müssen. Es sei unmöglich gewesen, unter diesen Umständen jede einzelne Person nachverfolgen und ihr Recht auf Asyl prüfen zu können. Die Migranten hätten zu Dutzenden in der Nacht die grüne Grenze überquert und seien dann verschwunden. Deshalb habe man in Grenzregionen den Ausnahmezustand verhängt.
Pushbacks an der EU-Aussengrenze
Doch was als vorläufige Massnahme gedacht war, gilt bis heute. Der Ausnahmezustand wurde immer wieder verlängert. Und nach wie vor versuchen Geflüchtete und Migranten die grüne Grenze zu Lettland zu überqueren, mit tatkräftiger Unterstützung der belarussischen Behörden. Es tun sich sogar neue Migrationsrouten auf: Seit März gibt es Direktflüge von der iranischen Hauptstadt Teheran nach Minsk.
Ieva Raubishko engagiert sich als Flüchtlingshelferin. Sie sagt: Seit Ende April habe die Zahl der Personen zugenommen, die versuchten, die Grenze zu überqueren. Dasselbe gelte für die Pushbacks, also das Zurückdrängen dieser Menschen.
Wenn man diese Menschen Wirtschaftsmigranten nennt, die kein Asyl verdienen – dann ist das eine Entmenschlichung.
Manche bleiben in dem waldigen und sumpfigen Grenzgebiet quasi gefangen – zurückgestossen von den lettischen Behörden und bedrängt von den belarussischen Sicherheitskräften. Darunter auch Familien mit Kindern. Menschen wurden krank, einige verloren Gliedmassen. Ende letztes Jahr erfror sogar ein Mann aus Afghanistan.
Raubishko verlangt, dass die lettische Regierung den Ausnahmezustand beendet. Vor allem müsse vermieden werden, dass Menschen an der Grenze in Gefahr gerieten. «Pushbacks sind unmenschlich. Und wenn man diese Menschen Wirtschaftsmigranten nennt, die kein Asyl verdienen – dann ist das ebenfalls eine Entmenschlichung von Leuten, die vielleicht wirklich Hilfe benötigen.»
Ausnahmezustand bald Normalzustand?
Das Einstehen für die Rechte der Geflüchteten bringt Raubishko massive Kritik ein. Ein Parlamentarier warf ihr vor, sie sei Teil des hybriden Krieges von Russland und Belarus. Und kürzlich haben die Behörden ein Strafverfahren gegen Raubishko eröffnet. Sie war ohne die nötige Bewilligung einer Gruppe syrischer Flüchtlinge an der Grenze zu Hilfe geeilt, um zu verhindern, dass diese ein weiteres Mal nach Belarus zurückgedrängt würden.
Doch Raubishko lässt sich nicht beirren. Sie sagt: «Wir denken, dass die grundlegenden Menschenrechte auch in diesem schwierigen Kontext gelten. Unsere Sicherheit darf nicht andere in Lebensgefahr bringen, die ebenfalls Sicherheit benötigen.»
Doch die Regierung sieht das anders. Sie arbeitet daran, den Ausnahmezustand zum Normalzustand zu machen. Per Gesetz sollen die Pushbacks legalisiert werden – ähnlich, wie das der Nachbar Litauen unlängst beschlossen hat.