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Prekäre militärische Lage «Selenski versucht, der Bevölkerung eine Niederlage zu verkaufen»

Während Verhandlungen für ein Ende des Kriegs in der Ukraine laufen, gibt es nach wie vor Angriffe auf beiden Seiten. Beide Seiten melden Verletzte und Tote. Die militärische Lage in der Ukraine sei prekär, Russland mache täglich Boden gut, sagt Osteuropa-Experte Jeronim Perovic.

Jeronim Perovic

Experte für osteuropäische Geschichte

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Als Historiker und Politikwissenschaftler hat sich Jeronim Perovic auf Russland und Osteuropa spezialisiert. Seit 2011 ist er Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich.

SRF News: Wie beurteilen Sie die aktuelle militärische Lage in der Ukraine?

Jeronim Perovic: Die Ukraine steht mit dem Rücken zur Wand, das ist ganz eindeutig. Die Realitäten am Boden sind für die Ukraine negativer, als man das hier wahrnimmt. Russland rückt langsam, aber stetig vor. Sie erobern im Schnitt ein bis zwei Ortschaften pro Tag. Allein im November waren es bereits tausend Quadratkilometer. Es gibt eine klare Tendenz, die für Russland und gegen die Ukraine spricht.

Rettungskräfte räumen Trümmer vor einem beschädigten Gebäude.
Legende: Während sich die Weltgemeinschaft um Frieden bemüht, geht der russische Beschuss auf die Ukraine unvermindert weiter. REUTERS/Valentyn Ogirenko

Lange hiess es, die Ukraine könne Russland besiegen. Haben wir die Situation falsch eingeschätzt?

Ja, die Lage wurde mehrfach falsch beurteilt. Anfänglich hat man den ukrainischen Widerstandswillen völlig unterschätzt. Durch die anfängliche Euphorie über die Erfolge der Ukraine ist dann aber eine verzerrte Wahrnehmung entstanden.

Der Korruptionsskandal ist für die Moral der Truppen und der Bevölkerung verheerend.

Gleichzeitig hat man den russischen Patriotismus unterschätzt. Viele Menschen in Russland können und wollen sich nicht vorstellen, diesen Krieg zu verlieren. Für sie kämpfen sie nicht gegen die Ukraine, sondern sie widersetzen sich dem kollektiven Westen, der Russland schwächen will.

Sie sagen, die anfängliche Einigkeit der Ukraine sei bedroht. Was sind die Gründe dafür?

Ja, die historische Einigkeit, die dem russischen Angriff standhielt, ist jetzt ernsthaft bedroht. Der Hauptgrund ist ein massiver Korruptionsskandal. In einer Situation, in der Menschen an der Front sterben – vermutlich schon Hunderttausende –, müssen sie erleben, wie sich einige an dem Geld bereichern, das eigentlich für die Verteidigung des Landes bestimmt ist. Das ist für die Moral der Truppen und der Bevölkerung verheerend.

Selenski hat die Bevölkerung in einer Ansprache auf die ‹schwierigste Stunde der ukrainischen Geschichte› vorbereitet.

Hinzu kommen weitere Probleme: eine grosse demografische Krise, weil Millionen Menschen das Land verlassen haben, und interne Spannungen bezüglich des Umgangs mit vermeintlichen Kollaborateuren.

Wie reagiert die ukrainische Führung auf diese desolate Lage?

Präsident Selenski hat die Bevölkerung in einer Ansprache auf die «schwierigste Stunde der ukrainischen Geschichte» vorbereitet. Das ist ein kompletter Wandel. Noch vor ein, zwei Jahren sprach er von Sieg und der Rückeroberung aller Gebiete bis zur Krim. Jetzt, wo er die Realität anerkennt, versucht er der Bevölkerung im Grunde eine Niederlage zu verkaufen und sie auf sehr weitreichende Konzessionen vorzubereiten.

Das Gespräch führte David Karasek.

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Tagesgespräch, 24.11.2025, 13:00 Uhr ; 

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