Zum Inhalt springen

«Mose» Venedigs Hochwasserschutz funktioniert – doch wie lange?

Seit fünf Jahren gibt es den «Mose»-Hochwasserschutz: von Freud und Leid vor der berühmten Lagunenstadt Venedig.

Seit fünf Jahren funktioniert Venedigs Hochwasserschutz mit dem Namen «Mose». Seither sind die schweren Überschwemmungen Venedigs gebannt. Eine Erfolgsgeschichte. Doch die insgesamt vier Barrieren des «Mose» verändern auch das Ökosystem der Lagune und viele fragen sich: Halten sie dem Klimawandel stand?

Gelbe Meeresschutzwand am Wasser.
Legende: «Mose» schützt Venedig – zumindest heute. Da sind sich alle einig. Doch er richtet auch Schäden an und wird Venedig nicht für alle Zeit bewahren können. REUTERS/Manuel Silvestri

Ein Fischer, ein Wissenschaftler, eine Spitzenbeamtin und ein Restaurator erklären, wie «Mose» funktioniert, wie er Venedig und seine Kunstschätze schützt und wie die mobilen Barrieren das Leben in der Lagune verändern.

Die Herrin der Gewässer

200'000 Euro kostet jede Schliessung der Barrieren.
Autor: Elisabetta Spitz Kommissarin «Mose»-Hochwasserschutz

Elisabetta Spitz sitzt in ihrem Büro mit Sicht auf die weltberühmte Rialto-Brücke. Sie entscheidet, ob die vier Barrieren mit dem Namen «Mose» hochgefahren werden oder nicht. 200'000 Euro kostet jedes Hochfahren und Absenken. Spitz nennt diese Zahl, ohne mit der Wimper zu zucken. Es sind die hohen Energiekosten, die zur gesalzenen Rechnung führen. Es ist viel Strom nötig, um die Barrieren aufzurichten, die im Ruhezustand flach auf dem Meeresboden liegen. Wird Hochwasseralarm ausgelöst, so riegelt «Mose» die Lagune innert 30 Minuten vollständig ab.

Elisabetta Spitz trägt den Titel «ausserordentliche Kommissarin». Sie verantwortet die Fertigstellung der riesigen Infrastruktur. Bis in diesem Sommer soll der langwierige Bau nach den letzten Tests und Kontrollen ganz abgeschlossen sein. In Funktion aber ist die Sperranlage schon seit knapp 5 Jahren. 6.3 Milliarden Euro hat sie gekostet. Und deren aufwändiger Unterhalt schlägt jährlich mit weiteren 100 Millionen zu Buche.

«‹Mose› verfügt über einen Mechanismus, den es so sonst nirgends auf der Welt gibt», sagt Spitz stolz. Bei normalem Pegel sind die riesigen Barrieren im Meer versenkt und unsichtbar. Sagen die Prognosen Hochwasser voraus, stellt man sie auf, indem man mit Hochdruck Luft in die Hohlräume der auffällig gelben Barrierenelemente pumpt.

«Mose» funktioniert und bringt grosse Erleichterung. Aber: Vermag er auch dem Klimawandel und dem steigenden Meeresspiegel zu trotzen? Der eigentliche Schwachpunkt seien nicht die Barrieren, erklärt Spitz dazu, sondern die natürlichen Landzungen. Zusammen mit «Mose» trennen sie die Lagune vom Meer. Denn die tiefsten Punkte der natürlichen Landzungen liegen unter der Oberkante der Barrieren.

Der Restaurator der Markuskirche

Endlich können wir die Schäden beheben.
Autor: Mario Piana Chefrestaurator der Markuskirche

Chefrestaurator Mario Piana fährt mit seinem Finger der Wand entlang: «So hoch stand das Wasser in der Markuskirche.» Das war vor «Mose». «Die Folgen davon sehen wir aber noch heute», erklärt Piana. «Wasser verdunstet, das Salz aber bleibt.» Im porösen Gestein steigt es wegen der Kapillarkraft mehrere Meter hoch und führt zu schweren Schäden an Mauern und Decken der berühmten Basilika.

Chefrestaurator Piana zeigt auf wertvolle Mosaiken. Einzelne Steinchen sind abgefallen. Oder er deutet mit dem Finger auf Marmor, der brüchig geworden ist und zerbröselt. «Die Aufgabe von uns Restauratoren ist es, die Langzeitschäden der vielen Hochwasser zu beheben. Wir montieren beschädigte Marmorplatten ab und lösen in Wasserbädern das Salz heraus. Die vergoldeten Mosaiken der Markusbasilika nehmen wir sorgfältig ab, um sie ebenfalls vom Salz zu befreien und zu sichern.»

Früher war das eine Sisyphusarbeit. Denn was man eben erst gereinigt und erneuert hatte, versalzte die nächste Sturmflut wieder. Seit die Barrieren das Hochwasser aber zuverlässig abwehren, ist alles anders. «Nun ist die Restaurierung von Dauer», freut sich Piana.

Der Fischer von Torcello

Ich fange 80 Prozent weniger Fisch.
Autor: Domenico Rossi Fischer

Mit seinem kleinen Fischerboot schippert Domenico Rossi durch die Lagune und wirft seine Netze aus. Doch die bleiben immer häufiger leer. «Ich fange rund 80 Prozent weniger Fisch», klagt Rossi, dessen Vorfahren schon Fischer in Torcello waren. Von seinem Beruf kann er kaum mehr leben. Darum hat er angefangen, nebenbei Touristinnen und Touristen durch die Lagune zu fahren.

«Ich war nie ein Anhänger von ‹Mose›», sagt Rossi, wenn man ihn nach den Gründen für die Misere fragt. «Wir wussten, dass die Barrieren die Lagune verändern würden.» Doch der Rückgang beim Fischfang hat noch weitere Gründe. Am schlimmsten wiege der Klimawandel. Für viele Fische sei die Lagune zu warm geworden, sie blieben jetzt draussen im Meer. Zudem schleppte man vor ein paar Jahren einen gefährlichen Räuber ein: die Blaukrabbe. Sie vermehrt sich rasend schnell und frisst viel vom Fisch, der noch übrig ist.

Domenico Rossis Blick schweift über die Landschaft, wo der Übergang zwischen Lagune und Meer fliessend ist. Seine Bilanz ist bitter: «Ich bin nicht der erste Fischer meiner Familie, aber ich werde der letzte sein. Ich habe es meinem Sohn untersagt, diesen Beruf zu ergreifen.» Die Lagune von Venedig gebe heute einfach zu wenig her.

Der Wissenschaftler auf der Salzwiese

Die Barrieren verändern das Ökosystem der Lagune.
Autor: Davide Tognin Umweltingenieur Universität Padua

Davide Tognin stapft in oberschenkelhohen Gummistiefeln durch den Schlamm. Jeder Schritt erzeugt einen schmatzenden Laut. Wir sind auf einer Salz- oder Marschwiese vor Venedig. Bei Flut liegen sie knöcheltief unter Wasser, bei Ebbe aber sind sie in hohen Stiefeln begehbar. Es ist eine idyllische Landschaft, in der nur Gräser gedeihen, die mit Salzwasser und Gezeiten zurechtkommen.

Nun aber bedrohen die Barrieren am Eingang der Lagune diese hybride Welt. Wissenschaftler Tognin sagt: «Rund 70 Prozent der Sedimente und Nährstoffe, die für den Erhalt dieser Wiesen notwendig sind, schwemmen die Hochwasser an.» Weil nun aber die Barrieren diese Hochwasser abwehren, geht den Wiesen sozusagen der Nachschub aus, also Ablagerungen und Nährstoffe. Sie drohen zu erodieren oder unterzugehen.

Gut, kann man sich sagen, was kümmern uns die verschlammten Wiesen der Lagune? Falsch, antwortet Davide Tognin von der Universität Padua. Denn diese Wiesen sind sehr nützlich. Sie sind natürliche Wellenbrecher, bieten Lebensraum für Tiere, sie filtern und reinigen das Wasser oder speichern klimaschädliches CO₂.

Die Wissenschaft geht davon aus, dass «Mose» das ökologische Gleichgewicht der Lagune ganz schön durcheinanderbringt. Sollte man die Barrieren wegen des Klimawandels und dem steigenden Meeresspiegel noch häufiger schliessen müssen, so drohen noch massivere Veränderungen. Manche Expertinnen oder Experten meinen gar, dass man die Lagune ab der Mitte dieses Jahrhunderts mit einem Deich permanent vom Meer abtrennen müsse. Venedig würde zur Stadt inmitten eines künstlichen Sees.

International, 25.1.2025, 9 Uhr

Meistgelesene Artikel