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Munitionslieferung an Ukraine «Neutral ist man nicht an einem Tag und am anderen nicht mehr»

Die Schweiz wird in Deutschland kritisiert, weil sie eine Munitionslieferung an die Ukraine verhindere. Das gibt in Hinblick auf die Neutralitätsdebatte zu reden.

Laurent Goetschel

Direktor von Swisspeace

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Goetschel ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Basel und Direktor der Friedensstiftung Swisspeace. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Friedens- und Konfliktforschung sowie die europäische Integration. Er arbeitete früher unter anderem als Journalist bei der Nachrichtenagentur AP und als politischer Berater von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey.

SRF: Ist diese Haltung noch nachvollziehbar – wenn in Europa eine Demokratie angegriffen wird?

Laurent Goetschel: Sie ist nachvollziehbar, weil sie mit der entsprechenden Gesetzgebung der Kriegsmaterialexporte übereinstimmt. Aber vor allem auch, weil sie mit den Verpflichtungen der Neutralität der Schweiz nicht vereinbar wäre.

So will es das Gesetz, so verlangt es die Haager Konvention von 1907. Hat der Bundesrat in dieser Frage keinen Handlungsspielraum?

Der Bundesrat hat immer einen Handlungsspielraum. Er könnte auch entscheiden, dass die Neutralität für die Schweiz nicht mehr die Bedeutung hat, die sie bisher gehabt hat.

Neutral ist man nicht an einem Tag und am anderen nicht mehr.

Er hat das aber offensichtlich nicht getan und ich erachte das auch als richtig. Neutral ist man nicht an einem Tag und am anderen nicht mehr. Es geht auch nicht um den betreffenden Konflikt, sondern grundsätzlich um die Haltung bei bewaffneten Auseinandersetzungen gegenüber Drittstaaten, sofern nicht eine der Parteien durch die Vereinten Nationen legitimiert ist.

Gerhard Pfister spricht in einem Tweet von unterlassener Hilfeleistung des Bundesrates. Es gehe in dieser Frage auch um die Interessen der Schweiz...

Gerhard Pfister hat das Recht, als Parteipräsident seine Meinung zu äussern. In diesem Fall geht es aber nicht um eine potenzielle humanitäre Hilfeleistung, sondern um die grundsätzliche Ausrichtung der Aussen- und Sicherheitspolitik der Schweiz. Diese lässt sich nicht wegen eines einzelnen Konflikts verändern. Sonst müsste man sich bei einem nächsten Konflikt erneut fragen, wie sich die Politik verhalten sollte.

Was ist denn in diesem Krieg das Ziel der Schweizer Neutralität – was kann sie erreichen?

Die Neutralität besagt, dass die Schweiz keine der Kriegsparteien direkt oder indirekt militärisch unterstützt. Dies aus meiner Sicht mit dem Ziel, eine Lösung zu finden, oder auch nachdem ein Waffenstillstand erreicht worden ist. Also den Konfliktparteien helfen zu können, sich auf einen minimalen Konsens zu einigen, damit es nicht zum Wiederaufflammen von Feindseligkeiten kommt.

Indem die Schweiz Deutschland nicht erlaubt, diese Munition auszuführen, erhöht sich also die Chance der Schweiz, mit Putin eine Einigung zu erreichen?
Das ist der vergleichsweise Vorteil, den die Schweiz in Zukunft anbringen kann in diesem Konflikt. Ich denke aber auch nicht, dass falls sich die Schweiz anders entscheiden würde, dies einen entscheidenden Unterschied im weiteren Kriegs- und Konfliktverlauf bedeuten würde.

Eine Gruppe von Nationalrätinnen und Nationalräten plant eine Reise in die Ukraine. Ist das vereinbar mit der Neutralität?

Durchaus – alles, was nicht direkt mit militärischen Unterstützungsleistungen verbunden ist, ist mit dem Neutralitätsrecht vereinbar und ist Teil der entsprechenden Neutralitätspolitik.

Aber kann diese Haltung der Schweiz im Ausland noch verstanden oder nachvollzogen werden?

Es wird immer Akteure geben, die Mühe damit bekunden, dass man in einem emotional aufgeladenen Konflikt nicht klar Position bezieht in Hinblick auf die militärischen Aspekte.

Es ist vielleicht emotional nicht ganz einfach zu verstehen.

Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig, dass man den Bezug der Position in allen Bereichen, die nicht direkt militärischer Natur sind, trennt von eben entsprechenden militärischen Hilfeleistungen. Das ist vielleicht emotional nicht immer ganz einfach zu verstehen.

Das Gespräch führte Christine Wanner.

Echo der Zeit; 24.4.22; 18 Uhr ; 

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