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Nach Brand in Moria Deutschland streitet über Flüchtlinge

Der Bundestag will mehr Hilfe Deutschlands für Flüchtlinge auf Lesbos. Doch ein Kompromiss wäre ein politisches Risiko.

Die Furcht vor einem zweiten «Flüchtlingssommer», wie ihn Deutschland 2015 erlebte, ist förmlich spürbar unter der Reichstagskuppel. «2015 darf sich nicht wiederholen, das nehme ich sehr, sehr ernst», sagte Innenminister Horst Seehofer heute im Bundestag. Es scheint die Maxime seines Handelns zu sein.

Natürlich könnte Deutschland mehr tun

Die moralischen Appelle von Linken, Grünen und aus der eigenen Koalition von SPD und Union sind an Dramatik kaum zu überbieten. Es wird die Bibel zitiert, von «Schande» und «Unmenschlichkeit» ist die Rede, von Empörung und Wut. «Ist das wirklich alles, was wir tun können?», fragte eine grüne Abgeordnete den Innenminister ganz direkt. Es ist der Schlüsselmoment der Debatte.

Natürlich könnte Deutschland mehr tun, tut es jeden Tag. Die Grenzen blieben offen, als die meisten anderen Länder in der EU 2015 dichtmachten. Über eine Million Flüchtlinge wurden seither aufgenommen, unzählige amtliche und ehrenamtliche Helfer unterstützen deren Integration, die zwar nicht einfach ist, aber machbar.

Europäische Einigung ist eine Illusion

Warum also gibt sich Deutschland keinen Ruck in der akuten Notsituation? Was sind schon 13'000 Flüchtlinge angesichts von 83 Millionen Deutschen? Oder wenigstens 5000, die mehrere CDU-Abgeordnete in einem Brief an Seehofer für menschlich geboten halten? Warum wirft der Innenminister nicht sein «Herz über die Hürde», wie von der Regierungspartnerin SPD gefordert?

Claudia Roth und Innenminister Horst Seehofer im Bundestag
Legende: Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) leitet die Sitzung des Bundestags, während Innenminister Horst Seehofer (CSU) über die Flüchtlinge auf Lesbos spricht. Keystone

Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens scheint Seehofer felsenfest daran zu glauben, es müsse und könne eine gesamteuropäische Antwort auf die Migrationsproblematik geben. Würde Deutschland vorangehen, wäre der Druck auf andere EU-Staaten, sich auch zu bewegen, gleich null, so die Befürchtung. Bloss ist eine Einigung in der EU nach den bisherigen Erfahrungen eine Illusion. Die harte Linie Deutschlands scheint daran nicht das Geringste zu ändern.

Der zweite Grund ist die AfD. Sie wird nicht müde, die Kontroverse um die Flüchtlinge weiter anzuheizen und dabei nicht nur den Finger auf den wunden Punkt der problematischen Folgen von Migration und Zuwanderung zu legen, sondern das Asylrecht grundsätzlich infrage zu stellen. In den Augen der AfD sind alle Flüchtlinge auf Moria «Sozialtouristen», die sich mit dem Abfackeln ihres Camps ein Ticket nach Europa «erpressen» wollten. Dass sich tatsächlich Asylberechtigte darunter befinden könnten – keine Option.

Alle Appelle verhallen

Auch die Forderung der Linken, alle Flüchtlinge aus Moria in Deutschland aufzunehmen, ist maximal. Doch wo früher eine Annäherung irgendwo dazwischen denkbar gewesen wäre, scheinen vernünftige Kompromisse heute in manchen Fragen kaum noch vermittelbar oder wurden zum unwägbaren Risiko für Entscheidungsträger. Was mit der Flüchtlingspolitik begann, wird mit der Coronapolitik gerade wiederbelebt.

Und so verhallen alle Appelle unter der Reichstagskuppel. Maximal 150 Menschen will der Innenminister aufnehmen, ausschliesslich unbegleitete Minderjährige. Alles Weitere soll ein Ausschuss klären. Das kann dauern. Und wer weiss, was bis dahin neue Schlagzeilen macht.

Tagesschau, 11.09.2020, 19:30 Uhr

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