Nach 17 Jahren wird Andreas Zünd das Bundesgericht bald verlassen. Der 63-Jährige ist künftig in Strassburg am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) tätig und Richter für viel mehr Rechtssuchende als in der Schweiz: «Zuerst ändert sich die Ausweitung des Spektrums: Der EGMR ist zuständig für 800 Millionen Menschen.»
Engagiert für die Menschenrechte
Mit dem Feld der Menschenrechte beschäftigt sich Zünd schon seit Jahrzehnten – er hatte schon früh ein besonderes Augenmerk für Fälle, die das Ausländerrecht, Ausschaffungen oder das Asylrecht betreffen.
Die Menschenrechtskonvention hatte für ihn von Anfang an zentrale Bedeutung: «Weil ich von Anfang an gespürt habe, dass das, was die Staaten Europas nach den Katastrophen der ersten Teile im 20. Jahrhundert entschieden haben – nämlich dass jeder Mensch grundlegende Rechte haben soll – mir von Anfang der wichtigste Aspekt einer Richtertätigkeit schien.»
Wichtige Urteile
Zünd gehört seit einem Jahrzehnt der zweiten öffentlich-rechtlichen Abteilung am Bundesgericht an. Diese Abteilung des Bundesgerichts fällt Urteile, die tiefe Auswirkungen auf die Schweizer Politik haben – wie etwa 2012, als anlässlich eines Ausschaffungsfalles entschieden wurde, dass die Menschenrechtskonvention im Streitfall nicht nur den Bundesgesetzen, sondern auch der Bundesverfassung vorgeht. Und das zwei Jahre nach Annahme der Aussschaffungsinitiative der SVP.
Dieses Urteil war mit ein Grund für die Lancierung der Selbstbestimmungsinitiative, derart gross war der Ärger von rechts. Die Initiative «Schweizer Recht statt Fremde Richter» wurde vom Schweizer Stimmvolk vor drei Jahren verworfen.
Im Rückblick sagt Andreas Zünd zum umstrittenen Urteil: «Wir hatten abzuwägen zwischen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Das Bundesgericht fand, dass der Volkswille zu respektieren sei.» Die Praxis des Bundesgerichts habe sich in diesem Bereich bis zu den Grenzen des Zulässigen nach der Menschenrechtskonvention verschoben, und die Schweiz habe es akzeptiert, die Grenzen einzuhalten, so Zünd.
Zünd ging immer einen eigenen Weg: Er stammt aus dem Aargauer Freiamt, einer konservativen Gegend, und schloss sich als Jugendlicher der SP an. Er wurde Jurist ohne Juristenhaushalt im Rücken – die Mutter arbeitete als Schneiderin, der Vater als Lehrer. Und Zünd ernährt sich vegan – aus Respekt vor der Kreatur, wie er sagt.
Von der progressiven Sorte
Mit ihm ist nach Helen Keller kein Professor mehr Richter für die Schweiz in Strassburg, sondern ein Praktiker. Ebenfalls als Professor vertrat Giorgio Malinverni die Schweiz am EGMR, zwischen 2007 und 2011. Er sagt zur Frage der Differenz zwischen Professoren und Richtern: «Unterschiedlich sind eher die Persönlichkeiten – unabhängig von ihrer Laufbahn sind manche Richter eher progressiv, und andere eher konservativ – das macht den Unterschied.»
Hier ist Zünd der progressiven Seite zuzurechnen. Mit seiner Richterfahrung sieht er den Schritt nach Strassburg eher als Ergänzung der Rolle.
Es ist nicht so, dass ich das Mikrofon suche.
In einem Punkt wird er sich aber bewegen müssen: Anders als im verschwiegenen Bundesgericht hat seine Vorgängerin am EGMR rege an der öffentlichen Debatte um den Gerichtshof und die Menschenrechte teilgenommen. «Erklären scheint mir eine wichtige Funktion zu sein. Aber es ist nicht so, dass ich das Mikrofon suche», sagt Zünd dazu. Zumindest in diesem Punkt dürfte es also Unterschiede geben.