Mit 60 Jahren für Männer und 55 Jahren für Frauen hat China eines der niedrigsten Renteneintrittsalter der Welt. In vielen Berufsgruppen gehen Frauen gar mit 50 Jahren in Rente. Die demografische und die schleppende wirtschaftliche Entwicklung zwingen das Regime nun, das System anzupassen. Im Raum steht Rentenalter 65 für alle.
Reformpläne kursieren in China seit mindestens zehn Jahren. Doch sie wurden bisher immer wieder verworfen, auch weil das Thema in der Bevölkerung grosse Emotionen auslöst, wie Fabian Kretschmer, freier Journalist in Peking, erklärt.
Der Druck steigt
Wie überfällig eine Anpassung ist, zeigt die gestiegene Lebenserwartung im Milliardenvolk. Sie liegt heute mit fast 80 Jahren gar leicht über dem Schnitt der USA. Sie ist damit mehr als doppelt so hoch wie 1949, als Mao Tse-Tung die Volksrepublik China ausgerufen hat. 300 Millionen Chinesinnen und Chinesen werden in der nächsten Dekade in Rente gehen. Dies bei schrumpfender Bevölkerung und weniger Geburten.
Der dringende Grund ist laut Kretschmer, dass die Kassen der Lokalregierungen leer sind: Durch die Null-Covid-Politik flossen extrem viele Ressourcen in die Quarantänelager und in die täglichen Massentests. Bereits 2019 und damit noch vor der Pandemie schätzte die Akademie für Sozialwissenschaften in China, dass die Pensionskassen bis 2035 leer sein würden.
Pläne noch nicht konkretisiert
Noch ist die Regierung nicht sehr konkret, wie sie die Renteneintrittsalter-Erhöhung umsetzen will. Sie müsse in den nächsten fünf Jahren auf «geordnete Weise» erfolgen, liess Staatspräsident Xi Jinping am Treffen der Parteileitung letzte Woche lediglich verlauten.
Offenbar wolle man dabei auch auf die freiwillige Teilnahme der Bevölkerung setzen, damit das Projekt ohne viel Widerstand in der Bevölkerung über die Bühne gehe, schätzt Kretschmer. Das Endziel sei aber noch nicht fixiert. Immerhin hatte die Akademie für Sozialwissenschaften vor einigen Monaten erklärt, dass Männer wie Frauen eigentlich im Alter von 65 Jahren in Rente gehen müssten.
Unmut über Ungerechtigkeiten
Das aktuelle Rentensystem ist laut Kretschmer nur sehr rudimentär entwickelt und wird auch oft als ungerecht empfunden. Während etwa Beamte und Regierungsangestellte in Peking und Schanghai umgerechnet durchschnittlich 750 Franken erhalten, liegen die privaten Renten bei 270 Franken. Zudem gibt es viele Arbeitsmigranten, und in den ärmeren Provinzen haben viele gar keinen Anspruch oder erhalten bloss ein Taschengeld.
Auch die unter der hohen Jugendarbeitslosigkeit leidenden Jungen beschweren sich über das geplante höhere Rentenalter. Viele finden nach der Universität keinen Job. Sie hören von den Menschen, denen mit 40 oder 50 Jahren gekündigt wird, weil sie nicht mehr so viele Überstunden leisten können und zu teuer geworden sind.
Regime braucht Augenmass
Die Regierung gehe oft mit eisernem Willen gegen den Volkswillen vor, sei aber gleichzeitig stark auf soziale Stabilität bedacht, so Kretschmer. Die Bevölkerung ihrerseits erwarte, dass die Partei das Land kompetent führe und vor allem für mehr Wohlstand sorge.
Wenn Peking also zu viel Frustration und sozialen Sprengstoff in der Bevölkerung wittere, könnten die Pläne vorerst wieder in der Schublade verschwinden oder zumindest abgeschwächt werden, schätzt Kretschmer.