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Polarisierung unter Bolsonaro Brasilien: Experte beobachtet «Prozess der Entdemokratisierung»

Politikprofessor Marcus Ianoni fällt ein hartes Urteil über die Regierung Bolsonaro: chaotisch, unerfahren, autoritär.

Marcus Ianoni

Politikprofessor

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Marcus Ianoni ist Politikprofessor an der Universidade Federal Fluminense (UFF) in Rio de Janeiro. Sein Schwerpunktthema ist Staatstheorie.

SRF News: Wie erklären Sie sich die guten Umfragewerte für Präsident Bolsonaro?

Marcus Ianoni: International wurde das Corona-Management der Regierung als unverantwortlich aufgenommen. Aber für viele Menschen, die nun eine finanzielle Corona-Nothilfe bekommen, steht der schlechte Umgang mit der Pandemie nicht im Vordergrund. Die Unterstützung ist für sie wichtiger. Zudem scheinen viele der ärmeren Wähler nicht mitgekriegt zu haben, dass die Regierung Bolsonaro eigentlich nur 200 Real (rund 34 Franken) im Monat zahlen wollte. Das Parlament setzte sich mit einem höheren Betrag durch, mit 600 Real (rund 100 Franken).

Das heisst: Die Menschen müssten eigentlich dem Parlament dankbar sein, nicht Bolsonaro. Man muss auch im Auge behalten: Die Umfragen sind noch recht frisch, wir wissen nicht, ob diese guten Werte für Bolsonaro von Dauer sein werden.

Bolsonaro scheint also die Sozialpolitik für sich entdeckt zu haben. Steht das nicht im Widerspruch zu seinem Wahlprogramm?

Er wurde mit einem ultraliberalen Programm gewählt, das zeigt sich ja auch an der Wahl seines Wirtschaftsministers Paulo Guedes. Aber: Dieses Programm enthält sehr viele unpopuläre Punkte. Deshalb sucht Bolsonaro nun nach einem Weg, mit dem er die Sozialpolitik erweitern kann – und dennoch die Unterstützung der Wirtschaft behält. Ob das machbar ist, ist offen. Was wir beobachten, ist, dass sein Diskurs sich in letzter Zeit stark gemässigt hat. Seine Berater haben ihm wohl vermitteln können, dass er sich selbst schadet, wenn er seine Worte nicht besser kontrolliert. Seine Attacken auf den Kongress und auf das Oberste Gericht haben nachgelassen. Das heisst: Er will für die Wahlen 2022 im Rennen bleiben.

Der Präsident hat keinen Respekt vor den demokratischen Institutionen.

Die Umfragen zeigen, wie die Bevölkerung die Regierung Bolsonaro bewertet. Wie würden Sie dessen Politik beschreiben?

Chaotisch, konfus, unerfahren, unfähig und autoritär.

Das sind harte Worte. Was ist Ihre grösste Sorge?

Ich mache mir Sorgen um die Demokratie. Der Präsident hat keinen Respekt vor den demokratischen Institutionen wie dem Kongress oder dem Obersten Gericht. Natürlich mache ich mir auch Sorgen, wenn ich mir den katastrophalen Umgang mit der Pandemie ansehe. Sorge bereitet mir auch die Wirtschaft: Es scheint mir, dass wir kaum in der Lage sein werden, so schnell wie es nötig wäre, aus dieser Krise herauszukommen.

Wir befinden uns in einem Prozess der Entdemokratisierung, der vom Präsident angeheizt wird. Eine demokratische Kritik ist eine willkommene Kritik. Aber, er ermutigt seine Anhänger, sich gegen die Institutionen zu stellen. Bolsonaro hat nie verheimlicht, dass er mit autoritären Ideen sympathisiert – er verteidigt die Militärdiktatur und hat viele Ministerien und Teile der öffentlichen Verwaltung militarisiert.

Sie sagen, die Demokratie ist in Gefahr. Aber bisher sind sämtliche Anträge auf eine Amtsenthebung versandet.

Im Parlament wird Bolsonaro derzeit durch einen Pakt mit den wichtigsten konservativen und rechten Parteien gestärkt. Ein Ziel scheint es mir da zu sein, Bolsonaro zu zähmen – damit das Land nicht erneut einen chaotischen Impeachment-Prozess durchlaufen muss. Aber das heisst nicht, dass alle dieser politischen Kräfte eine Wiederwahl Bolsonaros unterstützen würden.

Es stellt sich die Frage, wie breit aufgestellt und wie stark diese neue, extreme Rechte ist.

Ist Bolsonaro gekommen um zu bleiben?

Das wird sich noch zeigen, die Bevölkerung ist gespalten. Es geht allerdings um mehr als um die Frage, ob er wiedergewählt wird oder nicht. Mit Bolsonaro kam in Brasilien etwas Neues auf: Strassenbewegungen die – so sehen es verschiedene Analysen – neofaschistisch sind. Wir sprechen von Gruppen, die die Institutionen angreifen und auch zu physischer Gewalt bereit sind. Es stellt sich die Frage, wie breit aufgestellt und wie stark diese neue, extreme Rechte ist.

Das Gespräch führten Gonzalo Gaudenzi und Karen Naundorf.

10vor10, 28.9.2020, 21.50 Uhr ; 

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