Ob Frankreich bis Ende Woche tatsächlich eine handlungsfähige Regierung erhält und damit die politische Instabilität beseitigt werden kann, ist noch unklar. Das Problem: Das Politiksystem wird den heutigen Verhältnissen mit mehreren Parteien nicht mehr gerecht, wie die Politologin Hélène Miard-Delacroix erläutert.
SRF News: Welche Veränderungen in den letzten Jahren haben dazu geführt, dass das politische System Frankreichs derzeit gelähmt ist?
Hélène Miard-Delacroix: Wie in anderen Ländern gibt es auch in Frankreich die Tendenz, dass sich die politische Landschaft immer stärker aufsplittert. Ein weiterer Grund ist die Auflösung des Parlaments durch Präsident Emmanuel Macron im Sommer 2024 und die anschliessenden Neuwahlen.
Die Situation ist blockiert.
Macron hatte mit einer stabileren Mehrheit im Parlament gerechnet, doch das Gegenteil ist eingetreten: Es haben sich drei Blöcke gebildet, die sich feindlich gegenüberstehen. Weder Linke noch Mitte oder Rechte wollen Kompromisse eingehen. Die Situation ist blockiert.
Das bestehende Majorzwahlsystem bevorzugt die stärkste Partei und gibt ihr im Normalfall eine klare Mehrheit im Parlament. Wäre das Parlament mit einem Proporzwahlsystem nicht noch stärker zersplittert?
Ja und nein. Im französischen Majorzsystem besteht die Kraft darin, dass sich die Gruppen untereinander verständigen für den zweiten Wahlgang, die Stichwahl. So werden ganz links und ganz rechts in die Mitte gezwungen.
Jetzt hat jeder Angst, nicht wiedergewählt zu werden – und nimmt deshalb nicht am Zustandekommen eines Budgets teil.
Bei einem Proporzsystem könnten sich die unterschiedlichen Kräfte eines Lagers besser positionieren und bei der Wahl jenen Wähleranteil bekommen, für den sie gearbeitet haben. Hinzu kommt: Im Majorzsystem hat jeder Angst, nicht wiedergewählt zu werden und nimmt deshalb nicht konstruktiv an der Reformarbeit oder am Zustandekommen eines Budgets teil – weil er nicht später als Verräter erscheinen will.
Käme es einfacher zu Kompromissen bei einem Proporzwahlsystem?
Man hat den Eindruck, die politische Kultur in Frankreich verunmögliche Kompromisse, immer werde gestritten. Das hängt in der Tat auch mit dem System zusammen: Denn das Majorzsystem der fünften Republik seit 1958 geht von einer klar zweigeteilten politischen Landschaft aus – links und rechts. Jede Seite sollte abwechselnd mal Mehrheit, mal Opposition sein. Dieses System hat die Franzosen nie dazu gezwungen, Kompromisse zu finden. Wenn das Wahlsystem auf Proporz geändert würde, gäbe es nicht mehr diese Blöcke, sondern unterschiedliche Fraktionen – die dann untereinander Mehrheiten finden könnten oder müssten.
Könnte das Majorzsystem, das das rechtsgerichtete Rassemblement National von Marine Le Pen in den letzten Jahren stets zurückgebunden hat, ihr diesmal zu einer Mehrheit verhelfen?
Tatsächlich könnte es bei den nächsten Wahlen dazukommen, dass die Wählerinnen und Wählern in vielen Wahlkreisen im zweiten Wahlgang nur noch zwischen extremen Kandidaten wählen können – links oder rechts. Und weil sich die Angst vor dem linksradikalen Rand in letzter Zeit verstärkt hat, könnte mit dem Majorzsystem das rechte Rassemblement womöglich tatsächlich mehr Stimmen bekommen.
In einem Proporzsystem sähen sich die Leute wirklich repräsentiert.
Wenn dagegen die ganze Palette der Parteien im Angebot wäre, dann hätten die Wählerinnen und Wähler eine wirkliche Auswahl. Insofern böte ein Proporzsystem die Chance, dass die Bevölkerung den Eindruck erhielte, dass wirklich jede Stimme zählt. Dass jede politische Meinung proportional präsent ist im Parlament. So sähen sich die Leute wirklich repräsentiert.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.