Für Nato-Generalsekretär Mark Rutte steht ausser Frage: Die Nato muss handeln, und zwar rasch. China und Russland, so gab sich Rutte am Verteidigungsgipfel in Prag überzeugt, rüsteten nicht bloss auf, um aller Welt ihr modernstes Kriegsgerät auf Militärparaden in Moskau oder diese Woche in Peking vorzuführen. Vielmehr wollen sie aggressiv die Weltordnung verändern.
Die Ambitionen der zahlreichen Gegner des Westens haben sich verändert. Und zugleich hat deren Potenz zugenommen. Bisher vertraute der Westen vor allem auf seine technologisch besseren Waffen. Doch heute entwickeln auch China und Russland zu Land, zu Wasser, in der Luft und im Cyberraum hervorragende Systeme. Sie stehen den westlichen kaum oder gar nicht mehr nach.
Der Wille ist da
Die Botschaft, mehr in die Verteidigung zu stecken, ist bei den europäischen Nato-Ländern angekommen. Das zeigte sich in Prag deutlich. Dort beschäftigen sich derzeit Praktiker, wie Armeechefs, Sicherheitsberater, Financiers und Chefs von Rüstungskonzernen, mit der Umsetzung. Es gibt mittlerweile nicht bloss verbale Bekenntnisse zu mehr europäischer Verantwortung, es gibt in zahlreichen Ländern auch sehr viel mehr Geld. Eine Untersuchung des Londoner Strategieinstituts IISS weist aus, dass allein im Jahr 2024 die Verteidigungsausgaben um real 13 Prozent angestiegen sind. 2025 wachsen sie weiter kräftig.
Ob sich jedoch diese seit Jahrzehnten nicht mehr beobachtbare Zunahme längerfristig durchhalten lässt, ist eine andere Frage.
Tatsächlich gibt es inzwischen Bereiche, wo Europa aufholt. Etwa bei der Produktion von Munition. Noch vor Kurzem stellte allein Russland so viel davon her wie die gesamte Nato, inklusive den USA. Inzwischen wurde die Produktion versechsfacht.
Gegen Luftangriffe schlecht gewappnet
Gleichzeitig bleiben sogenannte Fähigkeitslücken. Und nicht wenige. Besonders krass zeigen sie sich bei den Luftverteidigungssystemen. Da wäre, gemäss Nato-Führung, eine Verfünffachung nötig. Ausserdem bräuchte man Tausende zusätzliche Panzerfahrzeuge, Millionen von Artilleriegeschossen und massenhaft Drohnen.
Niemand rechnet gleich mit russischen Panzern an der Elbe oder am Rhein. Wahrscheinlicher hingegen sind Angriffe aus der Luft. Doch ausgerechnet dagegen ist Europa schlecht gewappnet. Es fehlen Luft- und Raketenabwehrmittel, besonders akut weitreichende Präzisionswaffen.
Defizite auch bei der Software
Doch nicht nur bei den Waffen – also bei der Hardware – gibt es Defizite, sondern ebenso bei der Software. Da hängen Europas Armeen auf Gedeih und Verderb von wenigen US-Konzernen wie Microsoft, Amazon oder Google ab. Das Know-how fände sich zwar auch diesseits des Atlantiks, jedoch kaum marktfähige Angebote wie sie die Streitkräfte benötigen.
Das Problem für die europäischen Nato-Länder ist gleich ein vierfaches: Erstens muss man der Ukraine helfen. Zweitens sollte man sich selber besser verteidigen können. Drittens muss man zügig die bisherige US-Unterstützung ersetzen. Und viertens sollte man sich auch auf eine Zukunft vorbereiten, die neue Bedrohungen bereithalten wird.
Sich auf höhere Verteidigungsetats zu verpflichten und zu versprechen, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen, ist also das eine. Das dann umzusetzen in militärische Schlagkraft, ist das andere. Und da kommt Europa erst ziemlich mühsam in die Gänge.