Die Samstagsmütter sind eine Institution in Istanbul. Seit Jahrzehnten sitzen sie jeden Samstagmorgen auf dem Galatasaray-Platz in der Fussgängerzone und erinnern an das Schicksal ihrer Söhne, Brüder oder Väter. Es handelt sich vorwiegend um kurdische Männer, die im Krieg in den 90er-Jahren von türkischen Sicherheitskräften verschleppt und nie wieder gesehen wurden.
Die Regierung greift sofort mit Gewalt an, wenn sie spürt, dass sich die Proteste verbreiten könnten.
Friedlich sitzen die Frauen auf dem Boden, halten Bilder ihrer vermissten Angehörigen hoch und verteilen rote Nelken, bevor sie wieder nach Hause gehen. 699 Mal haben sie das bisher getan, um Aufklärung der Verbrechen und Gerechtigkeit für ihre Kinder zu fordern. Vom Staat wurden sie weitgehend ignoriert – bis zu diesem Samstagmorgen, an dem die 700. Mahnwache stattfinden sollte.
Hunderte Polizisten
«Diese Veranstaltung ist illegal», tönt es aus einem Polizeilautsprecher. Die Regierung hat sie kurzfristig verbieten lassen. Mehrere Hundertschaften Polizei marschieren am Galatasaray-Platz auf und riegeln die Fussgängerzone ab. Wasserwerfer fahren auf.
Wer den Platz nicht freiwillig verlässt, wird mit auf den Rücken gedrehten Armen abgeführt. Bald knallen die ersten Tränengaspetarden. Keuchend und hustend flüchten die Menschen in Hauseingänge und Geschäfte.
Fast 50 Festnahmen
Aus dem Gewühl taucht der kurdische Parlamentsabgeordnete Mithat Sancar auf. Er ist Vizepräsident der türkischen Volksvertretung und an diesem Samstag doch machtlos gegen die Polizei. «Ich habe versucht, zu verhindern, dass die Polizisten Personen mit Gewalt festnehmen – aber ich habe es nicht geschafft.»
Verzweifelt muss der Parlamentarier mitansehen, wie fast 50 Menschen festgenommen und abgeführt werden. Darunter ist die 82-jährige Samstagsmutter Emine Ocak, die seit 23 Jahren ihren verschleppten Sohn Hasan sucht.
«Regierung hat Angst»
Auch mehrere Abgeordnete der parlamentarischen Opposition werden von Polizisten angegriffen. Sie wollten an der Jubiläums-Mahnwache der Samstagsmütter teilnehmen, um Solidarität zu demonstrieren. Genau diese Solidarität fürchte die Regierung, sagt Sancar: «Sie haben grosse Angst vor der Reaktion der Massen.» Sie würden sofort mit Gewalt angreifen, wenn sie spüren würden, dass sich die Proteste verbreiten könnten.
Erinnerungen an die Gezi-Proteste vor fünf Jahren wehen mit dem Tränengas durch die Fussgängerzone, doch für die Kundgebungsteilnehmer markiert der Einsatz gegen die Samstagsmütter eine neue Qualität der Repression. Denn anders als die Gezi-Demonstranten wenden sich die Samstagsmütter nicht gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan – sie fordern nur Aufklärung der Verbrechen früherer Regierungen.
Erdogan und die 90er-Jahre
Mit diesem Einsatz stelle sich die Regierung Erdogan erstmals hinter die staatlichen Verbrechen der 90er-Jahre, sagt der Menschenrechtler Sezgin Tanrikulu, der für die kemalistische Opposition im Parlament sitzt. «Wer uns hier mit Tränengas beschiesst und auseinandertreibt, der übernimmt die Verantwortung für das Schicksal der Verschwundenen, der tritt das Erbe der Täter an, der reiht sich in diese Tradition ein, der macht sich zum Mittäter.»
Noch vor einigen Jahren hatte Erdogan die Samstagsmütter in seinem Amtssitz empfangen. Damals strebte er noch Frieden im kurdischen Südosten des Landes an. Das scheine heute lange her, sagt Sancar: «Diese Zeiten der verbalen Bekenntnisse sind vorbei. Es ist jetzt der nackte Machtstaat.»