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Proteste gegen Lukaschenko Belarus: Jung, apolitisch – und plötzlich Regimegegnerin

Tausende Oppositionelle in Belarus erleben Gewalt und flüchten. Auch die 22-jährige Marija. Doch sie gibt nicht auf.

Sie habe lange ihren Platz im Leben gesucht, sagt die 22-jährige Marija Matusevich. Sie sei eigentlich ein apolitischer Mensch gewesen, beginnt sie ihre Erzählung über die Ereignisse, die ihr Leben auf den Kopf gestellt haben.

Sie wirkt auf den ersten Blick unauffällig, fast schüchtern. Aber wenn sie erzählt, spricht sie entschlossen und ruhig. Ihr Blick fällt immer wieder auf das Smartphone: Sie hofft auf Nachrichten von Freunden, die aus Belarus fliehen wollten und seither verschollen sind. Ihr Unterarm ist tätowiert: mit einem traditionellen Ornament, einer Ähre und dem Wort «Jugend».

Frau zeigt Tattoos auf Unterarm: traditionelles Ornament, eine Ähre und das Wort «Jugend».
Legende: Matusevich hat sich ein traditionelles belarussisches Ornament auf den Unterarm tätowieren lassen, ein Zeichen für Feuer. Dazu das Wort «Jugend». ZVG

Der Alptraum begann, als sie nach dem 9. August an den Protesten gegen die gefälschte Präsidentenwahl teilnahm. Sie fuhr zusammen mit ihrem Freund und einem Kollegen in einem Auto in der Nacht kreuz und quer durch Minsk, um den Protestierenden Erste Hilfe zu leisten. 

Ein Auto mit einem improvisierten Kreuz.
Legende: Mit einem Auto, das sie mit einem roten Kreuz kennzeichneten, brachten die drei Freunde im nächtlichen Minsk Erste Hilfe zu den verletzten Protestierenden. ZVG

Doch die drei wurden festgenommen und auf ein Polizeirevier gebracht. «Sie haben praktisch sofort begonnen, uns zu schlagen», sagt Marija, die in Minsk geboren und aufgewachsen ist, aber die litauische Staatsbürgerschaft hat. «Zuerst prügelten sie nur meine Freunde. Aber dann haben sie meine Papiere gesehen und gesagt, du bist Litauerin, und in Litauen gibt es Feminismus. Du kriegst also dasselbe ab wie alle. Und sie haben angefangen, auch mich zu schlagen.»

Du bist Litauerin, und in Litauen gibt es Feminismus. Du kriegst also dasselbe ab wie alle.
Autor: Marija Matusevich Journalistin und belarussische Oppositionelle

Sie wurden in einen Keller gebracht, in dem gegen 200 Festgenommene gewesen seien, viele verletzt, mit gebrochenen Nasen, Armen, Beinen, der Boden voller Blut und Fäkalien. Und alles, die ganze Folter, sei gefilmt worden. Es seien auch Frauen dabei gewesen, die die festgenommenen Männer misshandelt hätten.

Eine Person zeigt ihre Verletzungen an den Oberschenkeln, die übersät sind von Blutergüssen.
Legende: Ein junger Mann zeigt seine Verletzungen, zugefügt auf dem Minsker Polizeirevier Frunsenskoje RUWD im August 2020. ZVG

Später wurde Marija von ihren Freunden getrennt und ins berüchtigte Gefängnis Okrestina gebracht, in eine betonierte, in den Boden eingelassene Zelle. Sie nickte ein, wachte dann aber von entsetzlichen Schreien auf – und der belarussischen Hymne: «Sie prügelten auf die Gefangenen ein, die Männer schrien und weinten und wurden gezwungen, die Hymne zu singen.»

Nach langen Stunden wurde Marija verletzt und traumatisiert entlassen. Einen Tag später kamen auch ihre Freunde frei. Sie harrten noch zwei Monate in Minsk aus, bis sie nach Litauen flohen. Marija musste sich psychologisch behandeln lassen. Sie hat sich aber inzwischen so weit erholt, dass über die traumatischen Ereignisse sprechen kann.

Frau hält  Plakat mit den Worten «Lukashenko is not my president» in die Höhe.
Legende: Matusevich protestiert während eines Aufenthalts in London gegen Lukaschenko. ZVG

Heute arbeitet sie für den unabhängigen Nachrichtenkanal Malanka TV, der aus Litauen über Youtube sendet. Etwas anderes zu tun, als sich für Belarus einzusetzen, das komme nicht infrage, sagt sie. Und Journalismus ist für sie das Mittel dafür. Denn Lukaschenko habe Angst vor der Wahrheit. 

Die Wahrheit verletzt ihn. Sie schwächt ihn, bringt ihn um.
Autor: Marija Matusevich Journalistin und belarussische Oppositionelle

Die Wahrheit verletze ihn. Sie schwäche ihn, bringe ihn um. Deshalb wolle er alle vernichten, die die Wahrheit aussprechen könnten.

Den Platz im Leben, den sie so lange suchte – diesen Platz hat Marija nun gefunden. Sie ist zur passionierten Journalistin geworden. Und sie ist mit der Liebe ihres Lebens verheiratet. Denn in den entsetzlichen Stunden auf dem Polizeirevier sei ihr und ihrem Freund klar geworden, dass sie zueinander gehörten. Sie haben geheiratet: in weiss-rot-weiss, den Farben der demokratischen belarussischen Opposition.

Die Beine einer Frau aus der Vogelperspektive in einem Hochzeitskleid und weiss-roten Blumen
Legende: Hochzeit in den Farben weiss-rot-weiss – den Farben der demokratischen belarussischen Opposition. ZVG

Rendez-vous, 15.07.2021, 12:30 Uhr

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