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Proteste gegen Lukaschenko Weissrussland droht zwischen den Machtblöcken zerrieben zu werden

Eigentlich geht es bei den Protesten in Weissrussland nicht um Aussenpolitik. Anders als bei den Euromaidan-Demonstrationen 2013 und 2014 in der Ukraine stehen heute in Weissrussland das Verhältnis zu Russland und zur EU nicht zur Debatte. Ost oder West, das ist nicht die Frage. Die Wut der Bevölkerung richtet sich allein gegen den eigenen Machthaber, gegen Langzeitdiktator Alexander Lukaschenko.

Und doch droht das Land zwischen den beiden Machtblöcken zerrieben zu werden.

Abhängig und doch auf Distanz

Weissrussland gehörte bis 1991 zur Sowjetunion und unterhält seither enge Beziehungen zum Nachfolgestaat Russland, wirtschaftlich ist es vom grossen Bruderland im Osten abhängig.

Politisch hat es Lukaschenko jedoch stets verstanden, eine gewisse Distanz zu Russland zu wahren und sich bei Bedarf auch beim Westen einzuschmeicheln. Der Westen ging auf die Avancen gerne ein, 2016 hob die EU einen Grossteil der Sanktionen gegen Lukaschenkos Machtapparat auf. Unter anderem, weil sich Weissrussland im Ukraine-Konflikt neutral verhalten hatte.

Das Manövrieren zwischen den Machtblöcken war lange Lukaschenkos aussenpolitischer Joker; nun droht Lukaschenko gerade auch deswegen die Macht im Land zu verlieren.

Flirt mit Lukaschenko beenden...

Russlands Präsident Wladimir Putin unterstützt Lukaschenko zurzeit bloss halbherzig. Denn ein allzu offensichtlicher Schmusekurs mit dem ungeliebten Diktator würde die russlandfreundliche Stimmung in grossen Teilen der Bevölkerung aufs Spiel setzen. Putin könnte versuchen, Lukaschenko zum Rücktritt zu bewegen und ihn durch einen Kreml-hörigen Präsidenten zu ersetzen.

In der EU warten viele schon lange darauf, den seltsamen Flirt mit Diktator Lukaschenko zu beenden. Die Aussenminister der 27 EU-Staaten haben vergangenen Freitag neue Sanktionen gegen das weissrussische Regime angekündigt, heute wollen die Staats- und Regierungschefs an einem Sondergipfel die Lage beraten. Bereits am Dienstag haben sich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit Putin ausgetauscht.

... und den Einfluss ausbauen

Doch die plötzliche Liebe der EU zur weissrussischen Demokratiebewegung dürfte auf verhaltene Gegenliebe stossen. Ausserdem fehlt in Weissrussland – anders als damals in der Ukraine – eine gut organisierte Opposition als Ansprechpartnerin.

Neuwahlen mit einer fairen Chance für alle politischen Kräfte könnten Weissrussland einen demokratischen Neuanfang bescheren. Doch stattdessen drohen dem Land im Gezerre zwischen Russland und dem Westen neue Konflikte – weil es beiden Seiten auch darum geht, den Einfluss in Weissrussland auszubauen.

Sebastian Ramspeck

Internationaler Korrespondent

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Sebastian Ramspeck ist internationaler Korrespondent für SRF. Zuvor war er Korrespondent in Brüssel und arbeitete als Wirtschaftsreporter für das Nachrichtenmagazin «10vor10». Ramspeck studierte Internationale Beziehungen am Graduate Institute in Genf.

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Tagesschau 18.08.2020

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