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Proteste in China Corona-Frust oder Anfang einer neuen Demokratiebewegung?

Die eindrücklichen Bilder von Demonstrierenden im ganzen Land wecken Erwartungen an einen demokratischen Aufstand. Gemäss Expertinnen und Experten braucht die politische Führung in Peking die Proteste bislang dennoch nicht zu fürchten.

Der drakonische Null-Covid-Kurs der chinesischen Regierung hat die Gesellschaft zum Pulverfass gemacht, wie es scheint. Bilder von Protesten gingen am Wochenende um die Welt. Angefangen hatten diese friedlich und ruhig, nachdem in der westchinesischen Stadt Ürümqi zehn Personen bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen waren.

Schnell machten Gerüchte die Runde, wonach die Feuerwehr aufgrund der harten Corona-Massnahmen nicht rechtzeitig an Ort und Stelle gewesen sei.

Von der Wirtschaftsmetropole Shanghai, über die Hauptstadt Peking, nach Guangzhou: von der tibetischen Hauptstadt Lhasa, nach Wuhan, über Chengdu, Chonqqing, nach Nanjing: Überall kam es zu ähnlichen Bildern. Auf Aufnahmen aus Shanghai war zu hören, wie die Teilnehmenden skandierten: «Nieder mit der Kommunistischen Partei!» und «Nieder mit Xi Jinping!» Internationale Nachrichtenagenturen berichten von vielen Festnahmen.

Hinter den Protesten stehen verschiedene Anliegen

Diese Koordination gibt den Protesten eine «neue Qualität», so Ralph Weber vom Europainstitut der Universität Basel im Interview mit Radio SRF. Längst scheint es einigen Demonstrierenden nicht mehr nur um den Widerstand gegen die harten Corona-Massnahmen zu gehen. Stattdessen sind die leeren weissen Blätter, die sie hochhalten, zum Symbol geworden. Die Demonstrierenden bringen damit ihren Unmut über die Zensur im Land zum Ausdruck.

Eine zentrale Rolle scheinen die Universitäten zu spielen. In Peking versammelten sich übers Wochenende Menschenmengen auf dem Campus der prestigeträchtigen Tsinghua Universität. Diese ist nicht nur die Alma Mater von Staatspräsident Xi, sondern war auch Brutstätte des Widerstandes, als es zu den grössten Protesten der jüngeren chinesischen Geschichte kam: denjenigen vom Sommer 1989.

Das «Tiananmen»-Massaker

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Mann steht 1989 auf dem Platz des himmlischen Friedens vor Panzern, die auf ihn zufahren.
Legende: Reuters

Am 4. Juni 1989 schlugen die chinesischen Sicherheitsbehörden Proteste auf dem «Platz des himmlischen Friedens» (chin. «Tiananmen») im Zentrum Pekings brutal nieder. Zuvor war es zu wochenlangen, friedlichen Protesten gekommen. Mitglieder der Demokratiebewegung hatten sich dabei mit Arbeitern zusammengeschlossen, die wegen der wirtschaftlichen Turbulenzen im Land unzufrieden waren.

Als einige Demonstrierende sich weigerten, das Stadtzentrum zu verlassen, reagierten die Behörden mit Gewalt. Es fielen Schüsse und die Armee schickte Panzer los. Das Bild eines Mannes, der sich mit weissen Fahnen vor eines der Kriegsgeräte stellte, ging um die Welt. Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Menschen an jenem Tag starben.

Korrektur: In einer früheren Version des Artikels war vermerkt, dass der «Tank Man» vom Tiananmen-Platz überfahren wurde. Dies trifft nicht zu. Gemäss Augenzeugen aus der Zeit konnte der Mann in der anwesenden Menschenmenge verschwinden.

Auch Anna Marti von der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung in Taiwan sagt, dass man die Sprengkraft der aktuellen Proteste nicht unterschätzen dürfe. «In ruhigen Zeiten halten sich die meisten Menschen mit Kritik zurück. Was die Proteste nun so besonders macht, ist, dass es viele sind, die auf die Strasse gehen.»

Proteste sind nicht Teil einer Bewegung

Wie breit abgestützt ist der Widerstand aber in der Öffentlichkeit? Eine genaue Antwort auf diese Frage zu geben, sei schier unmöglich, so Marti. Davon auszugehen, dass der Unmut sich auf Studierende und die junge Generation beschränke, sei aber wohl ein Fehler. «Auf einigen Videos sind auch Menschen mittleren Alters zu sehen, die zum Teil beherzte Reden halten», so die China-Kennerin.

Der Mehrheit der Demonstrierenden geht es wohl nicht um einen Systemwechsel.
Autor: Anna Marti China-Expertin der Friedrich-Naumann-Stiftung in Taipeh

Proteste sind in China grundsätzlich nichts Neues, so Ralph Weber von der Universität Basel. Fast täglich komme es im Riesenreich mit seinen 1.4 Milliarden Bewohnern zu kleineren Versammlungen, die sich meist gegen die örtlichen Behörden richteten. Dass sich die Demonstrierenden in unterschiedlichen Regionen nun aber aufeinander beziehen und die Zentralregierung kritisieren, stelle eine neue «politische Qualität» des Protests dar.

Klar ist aber auch: Im modernen China unter Xi Jinping existieren de facto keine organisierten politischen Kräfte ausserhalb der Kommunistischen Partei. Und der Präsident, der erst jüngst vom Politbüro in eine dritte Amtszeit gewählt wurde, sitzt laut Weber fester im Sessel denn je zuvor.

Der China-Kenner sieht darum zurzeit noch keinen Anlass, von einem politischen Flächenbrand auszugehen. «Es gibt derzeit keine Koordination, keine politische Bewegung hinter den Protesten, die das zu tragen vermag.»

Teilnehmende eines Protests in Peking
Legende: Teilnehmende eines Protests in Peking (27.11.22). Keystone/EPA/MARK R. CRISTINO

Anna Marti in Taipeh mahnt zudem davor, hinter den Protesten breit verankerte Umsturzgelüste innerhalb der Bevölkerung zu verorten: «Die Mehrheit der Demonstrierenden will wohl einfach den Status quo ante Corona zurück. Ihr geht es nicht um einen Systemwechsel.»

Rendez-vous, 28.11.2022, 12:30 Uhr

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