Psychische Folgen - Der lange Schatten der Traumata im Nahostkonflikt
Die aktuellen Ereignisse des Nahostkonflikts hinterlassen Spuren in der menschlichen Psyche. Bilder und Erfahrungen wecken Erinnerungen an traumatisierende Ereignisse der Vergangenheit. Ist angesichts dessen überhaupt jemals ein Dialog möglich?
«Täglich ertönen Sirenenalarme in Israel und in bestimmten Gebieten des Westjordanlandes. Die Zivilbevölkerung ist stark verängstigt», sagt Rahel Bachem vom Psychologischen Institut der Universität Zürich.
Rahel Bachem
Psychotraumatologin
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Psychologin Rahel Bachem hat an der Universität Tel Aviv als Postdoktorandin gearbeitet und sich während ihres dreijährigen Forschungsaufenthaltes auch intensiv mit der Weitergabe von Traumata innerhalb von Familien befasst. Sie ist eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin und arbeitet aktuell am Psychologischen Institut der Universität Zürich.
«Die Menschen in den Konfliktgebieten sind aktuell ständig einer Gefahrensituation ausgesetzt.» Hinzu kämen kursierende Bilder und grauenhafte Berichterstattungen in den Medien.
WHO warnt vor psychischen Folgen bei Menschen im Konfliktgebiet
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Bei den Menschen in den betroffenen Regionen haben der Terrorangriff der Hamas in Israel und der israelische Gegenangriff im Gazastreifen laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weitreichende psychische Folgen. Viele der Menschen in Gaza würden psychosoziale Unterstützung benötigen. Bewohnerinnen und Bewohner seien schon zuvor jahrelang von Konflikten und von Blockaden durch Israel belastet worden. Auch in Israel seien viele Menschen angesichts der aktuellen Ereignisse traumatisiert.
Das Betrachten dieser Bilder allein führe in den seltensten Fällen zu einer Traumatisierung, meint Bachem. Jedoch sinke die Resilienz von Menschen durch die allgegenwärtige Präsenz der Bilder. Dadurch steige das Risiko, nach einer Kriegserfahrung von Albträumen in der Nacht heimgesucht zu werden, durch Flashbacks aus dem Hier und Jetzt entrissen zu werden oder auch eine erhöhte Gefahrenwahrnehmung oder ein Vermeidungsverhalten zu entwickeln – klassische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
Niemand in der Zivilbevölkerung will Krieg.
Laut Bachem beeinträchtigen traumatisierende Erfahrungen das Sicherheitsgefühl der Zivilbevölkerung. Dadurch werde teilweise ein Bedürfnis nach Lösungen und Frieden hervorgerufen. «Niemand in der Zivilbevölkerung will Krieg.» Gleichzeitig seien aber Wut und Rachegefühle Reaktionen auf aktuelle Geschehnisse. Die Fronten verhärteten sich, ein gegenseitiges Misstrauen werde geschürt. Ein Dialog erscheine damit weit weg.
Zudem habe jedes Trauma das Potenzial, an die nächste Generation weitergegeben zu werden. «Traumata werden teilweise bereits im Mutterleib über biologische Prozesse weitergegeben. Wesentlich für die Weitergabe an die nächste Generation ist zudem die Interaktion zwischen Eltern und Kindern.»
In der Kindererziehung sei die Art und Weise, wie über ein Trauma gesprochen wird, zentral. Eine nicht altersgerechte und ungefilterte Kommunikation mit expliziten Schilderungen könne schädigend auf die Psyche der Kinder wirken.
Auf der anderen Seite könne auch eine Tabuisierung des Geschehenen bewirken, dass Kinder sich Schreckliches ausmalen und sich Szenen lebhaft vorstellen. «Kinder nehmen das Schreckliche trotzdem wahr. Wenn Eltern stets vermitteln, man solle vorsichtig sein, prägt dies das Weltbild der Kinder.»
Bachem erzählt das Beispiel eines Ex-Soldaten der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF). Schreckliche Erlebnisse während seines Dienstes hätten ihn traumatisiert. Die Folgen des Traumas zeigten sich nun im Familienleben des Ex-Soldaten: Der Vater habe Mühe, Verwandte sowie Freundinnen und Freunde in die Nähe der Familie zu lassen. Auch seine Kinder wiesen nun ein hohes Misstrauen gegenüber anderen Personen auf.
Therapie individueller Traumata
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Wenn Menschen eine PTBS entwickelt haben, kann eine Traumatherapie helfen, diese zu überwinden. In dieser wird versucht, das Trauma in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren. Man lernt, die Erinnerungen auszuhalten und sie nicht mehr zu vermeiden.
Traumatherapie, die die individuelle Gesundheit fördert, kann mitunter eine Voraussetzung dafür sein, um gesellschaftliche Veränderungen zu begünstigen. Insbesondere dann, wenn es darum geht, eine individuelle Sicht auf die Welt zu verändern. Empfinde ich die Welt als einen sicheren Ort? Oder kann mir unvorhergesehen etwas Schlimmes passieren? Sind mir Menschen grundsätzlich wohlgesonnen? Diese Fragen bezeichnet in der Psychologie der Begriff der Weltannahmen.
Traumatisierte Personen haben generell eher ein negatives Bild von der Welt. Programm der Traumatherapie ist eine Reflexion über diese individuellen Weltannahmen.
Ähnlich wie individuelle Traumata können auch kollektive Traumata weitergegeben werden. Ein kollektives Trauma ist eine massenhafte Traumatisierung vieler Einzelner, wie beispielsweise während des Holocausts oder der Nakba (wörtlich übersetzt «Katastrophe» - so bezeichnen Palästinenserinnen und Palästinenser die Vertreibung nach der Staatsgründung Israels). Menschen, die sich derselben Gruppe zugehörig fühlen, werden von einem Ereignis mittraumatisiert. Dieses Trauma beeinflusst Denkweisen oder Diskurse. Laut Bachem kann der Konflikt nicht rein mittels einer Trauma-Aufarbeitung gelöst werden. Auch die Politik müsse ihre Fäden ziehen.
Die Aufarbeitung eines kollektiven Traumas
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Nora Refaeil ist Mediatorin und Expertin zum Thema Vergangenheitsaufarbeitungs- und Versöhnungsprozesse. Sie lehrt an der Universität Basel und folgt dabei unter anderem dem Ansatz der sogenannten Transitional Justice. Dieser beleuchtet den Übergangsprozess zwischen Krieg und Frieden und zielt darauf ab, Verbrechen einer gewaltsamen Vergangenheit aufzuarbeiten.
«Für eine politische Lösung des Konflikts braucht es politische Verhandlungen. Für einen Frieden braucht es den Dialog», schreibt Refaeil auf Anfrage von SRF. Der Dialog finde aber oft nicht auf der Regierungsebene, sondern auf der zivilgesellschaftlichen Ebene oder zwischen lokalen Gemeinden und Gruppen statt. Von diesem Austausch zwischen all diesen Ebenen profitierten Friedensprozesse. «Es geht um einen Dialog über die Realitäten der Menschen, ihre Interessen und Bedürfnisse, aber vor allem auch um den Dialog über eine gemeinsame sichere Zukunft.» Laut Refaeil trügen diese Aussprache und das, was dabei herauskommt, auch zur Legitimität und Nachhaltigkeit der Politik bei. «Dialog ist der Gewalt diametral entgegengesetzt.»
Alle Kriege seien mit unermesslichem Leid für die Bevölkerung verbunden. «Dieses Leid und die Angst zeigen sich dann im kollektiven Trauma, das über Generationen hinweg das Leben der Menschen prägt.» Die Aufarbeitung der Vergangenheit gerade über das Format des Dialogs erlaube, sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen und mögliche Wege zu finden, um damit umzugehen. Damit sich diese Verbrechen aus der Vergangenheit nicht wiederholen, müssen schwere Menschenrechtsverbrechen gesellschaftlich und politisch aufgearbeitet werden. Einen Weg dazu zeige die Transitional Justice, die einen kritischen Blick auf Themen wie die (strafrechtliche) Rechenschaftspflicht, Reparationen, Wahrheitsfindung und institutionelle Reformen wirft.
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