Sarajevo, im Frühjahr 1992. Die bosnische Hauptstadt ist eingekesselt. Scharfschützen nehmen die Stadt ins Visier. Offenbar sind darunter aber nicht nur bosnisch-serbische Soldaten, sondern auch reiche Ausländer. Mit dem Krieg haben sie eigentlich nichts zu tun. Stattdessen haben sie viel Geld bezahlt, um in Sarajevo auf wehrlose Opfer zu schiessen – offenbar zu ihrem Vergnügen.
Dieses Bild ergibt sich aus der neuen Recherche eines italienischen Investigativautors. Nun sind italienische und bosnische Behörden aktiv geworden, um den Vorwürfen auf den Grund zu gehen. SRF-Korrespondent Peter Balzli erklärt, was das für Bosnien bedeutet.
Was war der Bosnienkrieg für ein Konflikt?
Der Bosnienkrieg gilt als besonders komplexer Konflikt, der von 1992 bis 1995 stattfand. Bosnien und Herzegowina erklärten damals ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien. Diese Unabhängigkeit wurde vom grösseren Teil der serbischstämmigen Bevölkerung abgelehnt, aber auch von einem Teil der kroatischstämmigen. Daraus entwickelte sich ein brutaler Krieg mit Massakern, Vertreibungen und Kriegsverbrechen.
Welche Rolle hat Sarajevo gespielt?
Sarajevo war im Krieg von zentraler Bedeutung. Die Stadt war damals wie heute ein Symbol für die multikulturelle Gesellschaft. Verschiedenen Ethnien und Religionen lebten bis zum Krieg friedlich nebeneinander. Die serbischen Belagerer wollten genau dieses Nebeneinander auslöschen und kesselten die Stadt über Jahre ein. Die Belagerung gilt als eine der längsten Belagerungen der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Über 10'000 Personen wurden getötet, über 50'000 verletzt.
Wie bedeutend war die geografische Lage der Stadt?
Sarajevo liegt ganz besonders für eine Hauptstadt. In einem engen Tal, auf beiden Seiten gibt es bewaldete Hügel. Von dort konnte die Stadt fast gefahrlos beschossen werden. Besonders viele Personen wurden damals durch serbische Heckenschützen getötet. Wer sein Haus verliess, begab sich automatisch in Lebensgefahr. Es war eine im wahrsten Sinne höllische Zeit für die Menschen in Sarajevo.
Wie ist die Recherche über den Sniper-Tourismus einzuschätzen?
Die Schilderungen des italienischen Investigativautors sind plausibel. Es gibt zahlreiche Personen, die die Vorgänge bezeugen. Schon im Dokumentarfilm «Sarajevo Safari» (2022) sind einige zu Wort gekommen, nach der neuen Recherche müssen jetzt weitere befragt werden. Nun ist es Aufgabe der Justiz, Beweise zu finden. Diese Entwicklung ist ein grosser Schritt für viele Menschen in Bosnien und Herzegowina.
Welche Reaktionen gibt es auf die Recherche?
Die jüngste Entwicklung hat in Bosnien und Herzegowina für viele Schlagzeilen gesorgt, aber nicht für eine Welle der Empörung. Ein Grossteil der Bevölkerung wusste bereits über die Gerüchte und Vorwürfe Bescheid. Die Ermittlungen stossen aber auf grosses Interesse.
Was bedeutet die juristische Aufarbeitung für die Opfer dieses Krieges?
Für viele in Sarajevo, die den Krieg noch selber erlebt haben, muss es eine grosse Erleichterung sein, dass dieses fürchterliche Kapitel des Krieges nicht einfach zu den Akten gelegt wird, sondern dass jetzt endlich nach der Wahrheit gesucht wird. Auch wenn es fraglich ist, ob die Ermittlung je zu Gerechtigkeit führen wird, ist es ein bedeutender Schritt.