Seit vergangenem Sonntag gehen die Menschen im Iran wieder auf die Strasse. Grund ist eine schwere Wirtschaftskrise im Land. Hunderte Ladenbesitzer haben aus Protest ihre Geschäfte geschlossen. Wie gross die neue Protestwelle ist und was der Auslöser war, weiss Rosa Lyon. Sie leitet das ORF-Auslandsbüro für die Türkei und den Iran.
SRF News: Wie gross sind die neuen Proteste?
Rosa Lyon: Das ist schwer zu sagen. Im Internet kursieren viele Handyvideos, auf denen grosse Menschenmengen zu sehen sind. In Basaren, in Einkaufszentren, auf den Strassen. Auch Auseinandersetzungen mit der Polizei sind zu sehen. Die Bilder kommen nicht nur aus Teheran, sondern auch aus der Mitte des Iran, aus der Stadt Isfahan, aus Shiraz im Süden und aus Maschad im Nordosten.
Was vielen nicht klar ist, ist, wie stark die iranische Wirtschaft unter den Sanktionen und den Kriegsfolgen leidet.
Was war genau der Auslöser?
Seit dem Zwölf-Tage-Krieg im Juni ist der Iran wirtschaftlich im freien Fall. Seit vergangenem Sonntag wird protestiert, weil die iranische Währung Rial stark gefallen ist. Allein von Sonntag auf Montag um mehr als sieben Prozent. Der Handel auf den wichtigsten Märkten der iranischen Hauptstadt Teheran ist zum Erliegen gekommen.
Diese Proteste werden sich wiederholen, aber sie werden nicht eskalieren, denn dazu sind sie nicht gross genug.
Vielen ist nicht klar, wie stark die iranische Wirtschaft unter den Sanktionen und den Kriegsfolgen leidet. Als 2015 die internationalen Sanktionen im Gegenzug für strenge Kontrollen aufgehoben wurden, betrug der Rial/Dollarkurs 32'000 Rial. Am Montag betrug er noch 1.38 Millionen Rial.
Haben die Proteste aus Ihrer Sicht das Potenzial, sich noch weiter auszuweiten?
Ihre Frage: Könnten diese Proteste tatsächlich der Anfang vom Ende des Regimes sein? Eher nicht, sagte mir der politische Analyst und Publizist Nader Karimi. Er ist sich sicher: Diese Proteste werden sich wiederholen, aber sie werden nicht eskalieren, denn dazu sind sie nicht gross genug. Die Gruppen seien nicht organisiert und es gebe keine Führung.
Alle Menschen im Iran, die sich andere Machtverhältnisse wünschen, verspüren jetzt Aufwind. Die Wut, die sich öffentlich zeigt, gibt die Stimmung im Iran zumindest der meisten Menschen gut wieder. Aber die eiserne Faust des iranischen Regimes ist nicht zu unterschätzen.
Diesmal haben Ladenbesitzer zu den Protesten aufgerufen. Inwiefern hat das einen Einfluss auf die Dynamik?
Es geht um ein anderes Thema. Daher demonstrieren zumindest an vorderster Front Geschäftsleute und Händler. Die westlichen Sanktionen treffen die meisten von ihnen und eben nicht jene, die es treffen sollte. Eine dünne obere Schicht verdient durch Korruption und Schattenwirtschaft dank der Sanktionen.
Viele Lebensmittel verzeichnen in den vergangenen Monaten dreistellige Inflationsraten.
Für den Grossteil der Menschen im Iran sind Fleisch und Milch unerschwinglich geworden, nicht nur wegen der Sanktionen. Wir sprechen von einem Land, das sehr reich war und sehr reich sein könnte. Doch viele Lebensmittel verzeichnen in den vergangenen Monaten dreistellige Inflationsraten. Das durchschnittliche Gehalt liegt bei knapp 100 Dollar und damit weit unter der Armutsgrenze. Ein kleiner Einkauf kostet schon 35 Dollar.
Wie reagieren die Behörden auf die Proteste?
Mit grossen Polizeieinsätzen und Tränengas. Es gibt ein ikonisches Bild: Ein junger Mann sitzt ganz allein in der Mitte einer Strasse am Boden; ihm gegenüber ist eine grosse Menge an Polizisten auf Motorrädern und von der Seite wird Tränengas geschossen.
Nebst dem harten Vorgehen der Polizei ist zudem der Zentralbankchef des Iran laut dem Staatsfernsehen zurückgetreten. Das war erwartet worden. Dieser Schritt tut den Protesten keinen Abbruch. Das Tränengas schon.
Das Gespräch führte Tobias Bühlmann.