«Alle in der EU spüren, dass eine Reformdebatte überfällig ist», erklärte der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel. Um bereit zu sein für eine Erweiterung der EU, braucht es eine Annäherung von zwei Seiten. Zuallererst haben die Beitrittswilligen die Pflicht, in einen anspruchsvollen Reformprozess einzusteigen.
Die Premierministerin aus Estland, Kaja Kallas, kennt das aus eigener Erfahrung. Ihr Land ging diesen Weg und profitierte wirtschaftlich enorm vom EU-Beitritt. Jetzt, da die Ukraine vor der Tür warte, stehe auch die EU in der Pflicht. «Sie kann nicht länger auf Zeit spielen wie in der Vergangenheit», so Kallas. «Jetzt muss auch die EU zeigen, dass sie reformfähig ist.»
Ringen um Reformen in der EU
Die Hausaufgaben sind enorm für die EU. Die 27 Mitgliedsstaaten müssten vom Prinzip der Einstimmigkeit in vielen Politikbereichen abkommen. Sie müssten Milliarden Euro Agrarsubventionen und Kohäsionsbeiträge umverteilen. Sie müssten beschliessen, aus zahlreichen Ländern, die heute Nettoempfänger sind, Nettozahler in der EU zu machen. Sie müssten entscheiden, die Anzahl Sitze im EU-Parlament und in der EU-Kommission neu zu verteilen.
Seit Jahrzehnten gelangen keine weitreichenden Reformen mehr in der Europäischen Union. Bundeskanzler Olaf Scholz bleibt trotzdem zuversichtlich. Er hat in den letzten Monaten manche konkreten Reformvorschläge gemacht. Zuletzt in einem gemeinsamen Papier mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Widerstand ist absehbar. Es sind die üblichen Verdächtigen. In der ersten Linie steht der ungarische Premierminister Viktor Orban. Natürlich will er sich einer EU-Erweiterung nicht ganz verschliessen. Er greift aber auf das bewährte Mittel zurück: den Fragenkatalog laufend zu erweitern, um nie zu einem Entscheid zu kommen. Die EU müsse erst einmal abwägen, was in ihrem Interesse sei und die Folgen einer möglichen Erweiterung in allen Facetten abklären, sagte Orban.
Papier ist bekanntlich geduldig. Die EU-Staaten geben sich ein Jahr Zeit, diese schwierige Reformdebatte entscheidend vorwärtszutreiben. Dann werden die Wählerinnen und Wähler an die Urnen gerufen, um ein neues EU-Parlament zusammenzustellen. Daraus wird sich ablesen lassen, wie überzeugend die Reform- und Erweiterungsdebatte bis dahin geführt wurde.