Die Lenin-Strasse im zentralrussischen Tarussa ist eine Idylle. Zweistöckige Steinhäuser aus der Zarenzeit, in lieblichen Pastellfarben gestrichen. Ein kleines Geschäft verkauft Ausrüstung für Fischer, eine Apotheke gibt es und das Altstadt-Café.
Gut 120 Kilometer liegt Tarussa von Moskau entfernt, gerade mal 10'000 Menschen leben hier. Tarussa ist ein kleines, friedliches Städtchen. Oder besser: es war ein friedliches Städtchen. Und die Lenin-Strasse ist einer der Gründe dafür, dass es Streit gibt in der Provinz.
«Das war ein richtiger Oktober-Putsch. Nichts hatte man dem Volk erklärt, nichts vorbereitet – stattdessen gab es über Nacht einen Umsturz», sagt Viktoria Gubareva, eine energische pensionierte Lehrerin mit lebendigen Augen. Sie steht – eben: auf der Lenin-Strasse – und greift zu drastischem Vokabular um zu beschreiben, was im vergangenen Herbst begonnen hat.
Die Lenin-Strasse nämlich sollte umbenannt werden – in Strasse der Kathedrale, nach der grossen weissen Kirche an ihrem Ende. 15 weitere Strassen der Stadt sollten einen neuen Namen erhalten. So hatte es der Gemeinderat beschlossen.
Die Sowjetunion ist zwar vor 30 Jahren untergegangen. Doch auf den Strassen von Russlands Städten lebt das kommunistische Weltreich weiter. Lenin-Allee, Platz der Revolution, die Kommunismus-Gasse: Strassen- und Ortsnamen sind landesweit immer noch gleich wie zu Zeiten, als im Kreml die Genossen regierten.
Russland unterscheidet sich da von anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. In der Ukraine etwa wurden nicht nur die Lenin-Strassen umgetauft, sondern auch fast alle Lenin-Statuen geschleift. Eine ähnliche sogenannte «Entkommunisierung» gab es etwa in den baltischen Ländern, also dort, wo die sowjetische Herrschaft den Menschen in schlechter Erinnerung geblieben ist.
Namensänderungen schockieren Bevölkerung
Und nun wollten die Stadtoberen in Tarussa einen ähnlichen Schritt unternehmen. «Erstmal war das ein Schock für viele. Dann sind verschiedene politische Kräfte aktiv geworden, haben sich zusammengetan», sagt Aktivistin Gubareva.
Sie ist eine der Wortführerinnen des Strassennamen-Widerstands. Die langjährige Einwohnerin von Tarussa sagt, sie sei in keiner Partei – aber sie war dabei, als im Winter eine Demonstration organisiert wurde, auf dem Lenin-Platz, der übrigens ebenfalls umgetauft werden sollte.
Noch heute findet man im Internet Videos von der Protestaktion. Mehrere Dutzend Leute versammelten sich vor dem Lenin-Denkmal, um gegen die Pläne der Stadtoberen zu demonstrieren.
Der Bezirkschef hatte ursprünglich die Idee mit den neuen Namen gehabt – respektive eigentlich sind es alte, vorrevolutionäre Namen: Die Karl-Marx-Strasse sollte wieder Feldstrasse heissen wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts; die nach der kommunistischen Kinder- und Jugendorganisation benannte «Pionierstrasse» sollte in «Gartenstrasse» umgetauft werden und so weiter. Das Argument: Mit diesen vorrevolutionären Bezeichnungen würde sich Tarussa mit historischem Glanz umgeben – und das wäre gut für den Tourismus.
Die Idee kam nicht gut an im Volk und daran hat sich nichts geändert, wie eine kleine Umfrage im Stadtzentrum zeigt. «Ein grosser Schmarren ist das, was die Mächtigen sich da ausgedacht haben», sagt ein Passant, der an der Pionierstrasse wohnt.
Wir haben genug andere Probleme in unserer Stadt.
Zwei Frauen meinen: «Uns gefallen die alten Namen; bloss, weil man die Namen der Strassen ändert, ändert sich doch an unserem Leben nichts.» Ein Taxifahrer, der beim Busbahnhof auf Kundschaft wartet, bringt noch ein weiteres Argument gegen die neuen Strassennamen ins Spiel: «Wir haben genug andere Probleme in unserer Stadt. Es gibt kaum Arbeitsplätze, die Leute wohnen in Häusern ohne fliessend Wasser, ohne Kanalisation. Wir müssen mit Holz heizen, weil es keine Gasanschlüsse gibt. Und die wollen die Strassennamen ändern.»
Das also das Stimmungsbild im Volk. Der Gemeindepräsident wollte SRF News kein Interview geben, um, wie es hiess, die «Stimmung nicht noch weiter anzuheizen.» Der Bezirkschef sagte erst zu, war dann aber nicht mehr erreichbar.
Tourismus-Argument sei nur vorgeschoben
Aktivistin Gubareva kritisiert die Behörden für zwei Dinge: Erstens hätten die Stadtoberen über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden. Wie, muss man sagen, so oft in Russland. Und dann hat Gubareva noch ein ideologisches Problem: Sie ist überzeugt, dass die Befürworter nicht nur den Touristen zuliebe die alten Strassennamen wiederherstellen möchten. Da seien Monarchisten am Werk, die den Kommunismus aus dem Stadtbild verbannen wollten.
Ganz unbegründet ist dieser Verdacht nicht: Der Bezirkschef von Tarussa hat Verbindungen zu konservativen, christlich-orthodoxen Kreisen. Gubareva fühlt sich persönlich betroffen: «Wieso sollen wir Lenin, wieso sollen wir die ganze Sowjet-Zeit aus unserer Geschichte herausreissen? Ich verstehe das nicht. Das sind 100 Jahre unserer Geschichte – von denen ich einen Teil selbst miterlebt habe.»
Wieso sollen wir Lenin, wieso sollen wir die ganze Sowjet-Zeit aus unser Geschichte herausreissen? Ich verstehe das nicht.
Und, sagt sie weiter, die Gegenseite argumentiere immer damit, die alten Strassennamen seien historischer. «Aber welche Geschichte ist damit gemeint? Nur diejenige der Fürsten, des Feudalismus? Als es noch Leibeigene gab?»
Russland kämpft um die eigene Identität
Der Strassenstreit von Tarussa ist alles andere als eine banale Sache: Es ist ein Kulturkampf, ja, es ist ein Kampf um Identität: Es geht darum, wer die Russen überhaupt sind, woher sie kommen, welche Werte und Epochen ihnen wichtig sind.
Nicht nur in Tarussa, überall im Land gibt es viele, die festhalten wollen an dem, was sie kennen, an der Lenin-Strasse zum Beispiel. Andere sitzen auf Chefposten, denken an den Tourismus oder die Zaren, das weiss man nicht so genau, sie reden auch ungern darüber. Wer am Schluss gewinnt, ist unklar, so auch in Tarussa: Die Umbenennung der Strassen wurde vorerst für ein Jahr ausgesetzt.