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Streik in Frankreich «Je mehr Leute auf der Strasse, desto grösser der Druck»

In Frankreich liegt der öffentliche Verkehr seit bald zwei Wochen praktisch lahm. An diesem Dienstag rufen erstmals ausnahmslos alle Gewerkschaften zum Protesttag gegen die geplante Rentenreform auf – landesweit. Gelingt es ihnen, eine Million Menschen zu mobilisieren, steht Emmanuel Macrons Regierung unter Zugzwang, wie SRF-Korrespondent Daniel Voll schätzt.

SRF News: Alle Gewerkschaften rufen zum Protest auf. Was passiert nun?

Daniel Voll: Es wird nicht wie seit beinahe zwei Wochen nur der öffentliche Verkehr praktisch stillstehen. Streiken will auch das Personal in den öffentlichen Spitälern. Auch in vielen Schulen fällt der Unterricht aus. Und streiken wollen aber auch Anwälte und Gerichtsangestellte. Denn auch sie lehnen die Rentenreform ab, weil sie ihnen höhere Prämien und gleichzeitig tiefere Leistungen bringen wird.

Vor allem wollen aber die Gewerkschaften bis zu einer Million Demonstranten mobilisieren. Das ist mehr als in den beiden ersten Demonstrationstagen in der letzten und vorletzten Woche. Dies wäre möglich, weil erstmals auch die grösste Gewerkschaft, die CFDT, mitmacht.

Der Streik in Frankreich geht weiter

Die CFDT ist eine gemässigte Gewerkschaft. Was hat sie dazu bewegt?

Sie reagiert auf die Pläne, die Regierungschef Edouard Philippe letzten Mittwoch vorgestellt hat. Sie ist gegen eine allgemeine Erhöhung des Rentenalters auf 64 Jahre. Mit dem Umbau des Rentensystems – der Abschaffung der unterschiedlichen Branchenlösungen – hätte die CFDT dagegen kein Problem. Sie fordert selber schon seit Jahren eine Vereinheitlichung. Aber sie hat ganz andere Vorstellungen als radikalere Gewerkschaften wie die CGT, die die Rentenpläne grundsätzlich ablehnt.

Man ruft zum Protest auf, nicht zum Streik. Warum diese Unterscheidung?

Weil es nicht dasselbe ist. Gestreikt wird vor allem im öffentlichen Verkehr. Das ist ein Sektor, der sehr gut organisiert ist, mit dem man relativ einfach ein ganzes System lahmlegen kann, mit Auswirkungen für das ganze Land. Die Leute leiden zum Teil sehr stark darunter, haben stundenlange Arbeitswege. Aber es sind auch andere die Branchen unzufrieden. Mit der Protestaktion können die Gewerkschaften zeigen, dass ihre Unterstützung gross ist.

Wie stark kommt Macrons Regierung mit ihrer Rentenreform unter Druck?

Je mehr Leute auf die Strasse gehen, desto grösser wird der Druck auf die Regierung. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass alle fünf grossen Gewerkschaften vereint demonstrieren. Über eine Million Menschen zu mobilisieren, ist ihnen seit Jahren nicht mehr gelungen. Schaffen sie es, dann haben ihre Forderungen bei den Gesprächen mit der Regierung mehr Gewicht.

Nach bald zwei Wochen Stillstand liegen die Nerven bei vielen Menschen blank.

Dann muss sich die Regierung tatsächlich überlegen, ob sie den Protestierenden entgegenkommt. Zum Beispiel könnte sie auf die Erhöhung des Rentenalters verzichten und sich auf den Systemumbau beschränken. Damit hätte sie zumindest die grösste Gewerkschaft an Bord und würde Flexibilität signalisieren.

Das ist im Kampf um die öffentliche Meinung auch nicht ganz unwichtig, denn im Moment haben die Streikenden noch eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Aber nach bald zwei Wochen Stillstand liegen die Nerven bei vielen Menschen blank. Wenn der Streik über die Festtage andauert, könnte die öffentliche Meinung sehr rasch kippen.

Das Gespräch führte Susanne Stöckl.

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