Probe im Theater Uschhorod, einer Kleinstadt im Westen der Ukraine. Auf dem Programm steht ein Stück für Kinder. Es erzählt die Geschichte einer Ente, die den Sinn des Lebens sucht. Eine der Schauspielerinnen ist die 65-jährige Vira Lebedinska. Sie ist eine elegante Erscheinung, trägt ein dezentes Parfum, etwas Schmuck – Lebedinska ist eine Künstlerin, keine Frage. Wenn sie ihre entsetzliche Geschichte erzählt, bleibt sie meist gefasst.
Sie lebte und arbeitete in Mariupol, als die Russen gleich zu Beginn der Grossinvasion vorrückten und die Stadt unter Dauerbeschuss nahmen: vom Land, vom Meer und aus der Luft. Lebedinska sagt: «Ins Theater begab ich mich am 3. März. Ich hatte die Stadt nicht verlassen, ich wusste nicht, dass Mariupol umzingelt war. Als ein Geschoss bei meiner Wohnung einschlug und es kein Wasser, keinen Strom, keine Heizung mehr gab, da verstand ich: Die Apokalypse war da. Ich musste weg, denn sonst wäre ich unter Trümmern begraben worden und niemand hätte mich je gefunden.»
Die Sängerin und Schauspielerin packte das Nötigste ein, nahm ihren Kater Gabriel mit und richtete sich im Musikzimmer des Dramatheaters ein – ihrem Arbeitsort. Zu ihr gesellte sich eine Kollegin mit Familie. Die Kammer war im Souterrain, die dicken Mauern des Gebäudes hätten ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben, so Lebedinska. Bald verbreitete sich das Gerücht, es werde evakuiert, man müsse sich im Theater einfinden. Und bald kamen immer mehr Menschen aus allen Teilen der Stadt: «Wir öffneten die Türen und sie strömten herein. Es kamen über tausend Menschen, sie liessen sich in den Logen im dritten, zweiten und ersten Stock nieder, beim Hintereingang, überall. Es waren schrecklich viele Leute.»
Plötzlich habe der Kater sein Fell gesträubt
Man begann, sich zu organisieren. Vira machte sich ans Putzen. Es gab nur ein paar wenige Toiletten und kein fliessendes Wasser. Freiwillige brachten Lebensmittel und Kleider, die sie aus zerbombten Geschäften geholt hatten. Helfer bauten draussen eine Feldküche auf. Und um kochen zu können, begann man das Mobiliar zu verfeuern.
«Ich sagte ihnen: Was tut Ihr da, das ist doch ein Theater! Doch sie winkten ab, und innerhalb von zwei Tagen waren alle Stühle weg und der Saal leer.» Dann kam der Frost, minus 10 Grad. Immer wieder verliessen Leute das Theater, versuchten, aus der Stadt zu fliehen, ihren Platz nahmen andere ein. Und dann kam der 16. März.
Plötzlich habe der Kater sein Fell gesträubt: «Ich hörte das Geräusch eines Flugzeuges und dann ... ‹biiii›. Danach: eine gewaltige Explosion. Gefolgt von: Stille. Wir haben nichts begriffen, so eine laute Explosion gab es noch nie.»
Erst dann hätten sie Hilfeschreie gehört. Der Mann der Kollegin begab sich nach oben, kam zurück und sagte: Das Theater gibt es nicht mehr, wir müssen sofort raus. Sie schafften es, das Gebäude zu verlassen, mussten dabei aber über Leichen steigen, denn das Dach und die drei Stockwerke waren auf den Hauptsaal und die Bühne gestürzt und hatten dabei all die Menschen erschlagen. Wie sie es dann schaffte, leicht bekleidet und völlig verstört die Stadt zu verlassen, ist eine weitere schlimme Geschichte.
Tote, Geflohene, Deportierte
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Acht Wochen lang bombardierten und beschossen russische Streitkräfte Mariupol und besiegten schlussendlich die ukrainischen Truppen. Tausende unbeteiligte Menschen wurden dabei getötet, geschätzt 400'000 Einwohnerinnen und Einwohner flohen aus der Stadt. Unzählige wurden nach Russland zwangsevakuiert, darunter viele Kinder. Manche von ihnen wurden inzwischen in Russland illegal adoptiert. Zahlreiche Männer verschwanden in russischen Filtrationslagern.
Die Zurückgebliebenen mussten monatelang ohne Strom, fliessendes Wasser und ohne medizinische Versorgung auskommen. Satellitenaufnahmen zeigen, dass nach dem Ende der Kämpfe 93 Prozent der mehrstöckigen Wohngebäude im Zentrum von Mariupol zerstört waren sowie alle Krankenhäuser und fast alle Schulen.
Doch jetzt ist Vira Lebedinska in Uschhorod, hat Arbeit gefunden und steht immer noch auf der Bühne. Sie kann sich nur ein Zimmer in einem Wohnheim leisten und sagt trotzdem: Sie beklage sich nicht, sie danke Gott dafür.
«Es war Absicht, es war gezielter Mord»
Ihre Erinnerungen aber wird sie nicht los. Was sie zudem bestürzt, ist der Umstand, dass es selbst in Mariupol Leute gebe, die die Lüge von der russischen Unschuld glaubten: «Sie riefen mich an und sagten, die Ukrainer haben das Theater von innen gesprengt, man hat den Sprengstoff in Schachteln dorthin gebracht. Ich kann das nicht verstehen. Ja, freiwillige Helfer haben uns Schachteln gebracht, aber da waren Nahrungsmittel drin, Schokolade etwa.»
Lebedinska sagt: Es habe in Mariupol tatsächlich Leute gegeben, die auf die Ankunft der Russen gewartet hätten. Die Stadt sei teilweise russisch geprägt und von ehemaligen russischen Militärs bewohnt worden. Die Leute, so Lebedinska, würden nur das hören, was sie auch hören wollten.
Mariupol inmitten des russischen Angriffskriegs
Bis heute weiss man nicht genau, wie viele Menschen beim Luftangriff getötet wurden. Lebedinska sagt: Zeitweise hätten über tausend Menschen im Theater gelebt und es sei bekannt gewesen, dass Leute dort Zuflucht gefunden hätten. Man brachte sogar einen Schriftzug an – hier sind Kinder – der aus der Luft sichtbar war. Sie könne nicht sagen, wie viele Opfer es gegeben habe, aber es seien sehr viele gewesen: «Es war Absicht, es war gezielter Mord.»
Wie sieht es heute aus?
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Wie viele der Opfer des Luftangriffs auf das Theater geborgen und begraben wurden, weiss man nicht. Es gibt Hinweise darauf, dass dies kaum geschah. Später errichteten die Besatzer gigantische Stellwände um die Ruine des Theaters, um diese abzuschirmen. Auf den Plakaten waren russische Schriftsteller abgebildet, als Teil der Politik, die Stadt zu russifizieren. Später hat man den grössten Teil der Ruine abgerissen und ist jetzt dabei, das Theater neu aufzubauen. 2025 soll es wiedereröffnet werden. Man will also am Ort des Verbrechens wieder singen und tanzen.
Die Besatzer haben Strassen und Plätze umbenannt, der Platz der Freiheit heisst jetzt wieder Leninplatz. Viele der kaputten Wohnhäuser hat man abgebrochen. Mit ihnen wurden auch die nicht geborgenen Leichen und die persönlichen Gegenstände der Geflohenen und Getöteten beseitigt. Damit wurden die Spuren der russischen Verbrechen vermischt, denn unabhängige Experten und Expertinnen konnten nie den Ort des Geschehens untersuchen.
Gleichzeitig wird viel gebaut, russische Firmen ziehen neue Wohnblöcke hoch und verdienen viel Geld damit. Verlassene, noch einigermassen intakte Wohnungen und auch Geschäfte, die Getöteten oder Geflohenen gehören, wurden enteignet und werden neu vermietet oder verkauft. Russland versucht, möglichst viele Russen und Russinnen nach Mariupol zu locken, um die Russifizierung der Stadt unumkehrbar zu machen. Gleichzeitig wird alles Ukrainische getilgt.
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