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Tod von Marwan Issa «Viele Hamas-Kammern operieren autonom»

In den letzten Tagen hat die israelische Armee die Nummer drei der Hamas-Führung im Gazastreifen getötet. Marwan Issa galt als einer der Drahtzieher des Hamas-Massakers vom 7. Oktober. Sicherheitsexperte Andreas Krieg schätzt die Folgen für den weiteren Kriegsverlauf ein.

Andreas Krieg

Nahost- und Militärexperte

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Der Deutsche ist Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King's College. Risikoanalysen zum Nahen Osten sind sein Spezialgebiet. 2019 veröffentliche er zusammen mit Jean-Marc Rickli das Buch «Surrogate Warfare» (zu Deutsch: «Stellvertreterkriege»).

SRF News: Wie stark schwächt die Tötung von Issa die Hamas im Gazastreifen?

Andreas Krieg: Nicht signifikant. Das Problem ist, dass wir die Hamas nicht als eine hierarchische Organisation verstehen dürfen, sondern als ein Netzwerk. Gewisse Personen in diesem Netz sind wichtig. Marwan Issa war sicherlich ein sehr wichtiger Kommandant. Aber diese Netzwerke sind extrem widerstandsfähig und resilient. Wenn man einzelne Kommandanten auslöscht, hat das keinen riesigen Einfluss auf die weitere Kriegsführung. Viele dieser kleinen Kammern, die sich mit der Hamas verbrüdert haben, operieren mehr oder weniger autonom.

Dieser Krieg hat wenig Einfluss auf die Fähigkeit der Hamas, sich frei zu bewegen.

Das Problem liegt auch darin, dass Israel sich zu sehr darauf konzentriert hat, die Köpfe der Hamas auszulöschen – und damit zu sagen: Wir haben gewonnen. Die Hamas ist in erster Linie eine Idee. Und eine Idee kann man eben nicht zerstören, indem man irgendwelche Führungskräfte auslöscht.

Schon vor Wochen verkündete die israelische Armee, sie habe die Hamas aus dem nördlichen Teil des Gazastreifens vertrieben. Nun ist Issa eben in diesem Norden getötet worden. Heisst das, dass die Hamas wieder dorthin zurückkehren konnte?

Ganz genau. Das Problem ist, dass es zwei verschiedene Schlachtfelder gibt: ein oberirdisches und ein unterirdisches. Selbst wenn man oberirdisch Territorium gutmacht und von der Hamas befreit, hat das sehr wenig Einfluss auf das, was unterirdisch in diesen Hunderten von Kilometern von Tunneln vor sich geht.

Was sehr wahrscheinlich passiert ist, ist, dass die Hamas den Korridor, den die Israelis quer durch den Gazastreifen etabliert haben, unterwandert hat durch das Tunnelsystem. Das zeigt, dass dieser Krieg mit der ganzen Zerstörung und dem Leid, was einhergegangen ist, sehr wenig Einfluss hat auf die Fähigkeit der Hamas, sich frei zu bewegen.

Bedeutet das auch, dass noch ein langer Guerillakrieg bevorsteht?

Die Hamas hat es bis jetzt geschafft, Kriegsführung auf dem offenen Feld und in der Stadt zu vermeiden. Meistens haben sie aus dem Hinterhalt heraus operiert und sind direkt wieder in die Tunnel verschwunden, was es sehr schwer macht für die Israelis.

Mehr als die Hälfte der Hamas-Kämpfer sind noch operationell aktiv.

Wenn diese Methode jetzt weiter fortgeführt und dieses Tunnelsystem nicht zerstört wird – was meines Erachtens fast unmöglich ist –, wird es ein Krieg sein, der sich im Endeffekt über viele Monate – wenn nicht Jahre – hinziehen kann.

Israel will bisher mindestens 10'000 Kämpfer der Hamas getötet haben. Wie gross ist die Schlagkraft der Hamas noch?

Das ist sehr schwierig zu sagen. Die Israelis benutzen ganz andere Zahlen als die Hamas selber. Die israelischen Streitkräfte messen ihren Erfolg anhand der Anzahl getöteter Hamas-Kämpfer. Exemplarisch sehen wir das jetzt beim Al-Shifa-Spital: Da werden männliche Palästinenser als Kombattanten oder zumindest als potenzielle Hamas-Kämpfer geführt. Dementsprechend hoch ist die Anzahl Toter. Das hat aber mit der Realität wenig zu tun.

Ich würde eher davon ausgehen, dass bislang zwischen 30 bis maximal 40 Prozent der Hamas-Kämpfer getötet wurden oder gefangen genommen worden sind. Das heisst: Mehr als die Hälfte der Hamas-Kämpfer und der Brigaden sind noch operationell aktiv.

Das Gespräch führte Matthias Kündig.

Krieg im Nahen Osten

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Die Konflikte in Israel, im Westjordanland, im Gazastreifen und in Libanon halten an. Hier finden Sie alle unsere Inhalte zum Krieg im Nahen Osten.

Echo der Zeit, 22.03.24, 18 Uhr ; 

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