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Überlastetes Gesundheitswesen Wartezeiten in Grossbritannien gefährden die Gesundheit

Dreieinhalb Monate warten Britinnen und Briten im Durchschnitt auf einen Termin bei einer medizinischen Fachperson. Rund 400'000 Personen warten gegenwärtig seit über einem Jahr. Und Besserung ist nicht in Sicht.

Vorsichtig setzt Rentner Kevin Jordan einen Fuss vor den anderen. Der 70-Jährige spaziert mit einer Gehhilfe über den Sandstrand von Hemsby im Osten Englands. Das Gehen fällt ihm schwer. «Mein Fuss braucht dringend eine Behandlung, damit ich wieder normal gehen kann», erzählt der ehemalige Software-Ingenieur. «Ich möchte gerne wieder einen Hund spazieren führen. Der Strand wäre ideal dafür. Ich hatte mein Leben lang Hunde.»

Kevin Jordan wartet seit mehr als sieben Monaten mit wachsender Ungeduld auf den Anruf eines Orthopäden des regionalen Krankenhauses, um einen Termin zu bekommen. Der Spezialist wird seinen linken Fuss untersuchen und danach entscheiden, ob es eine Operation braucht. Im Fuss hat sich ein Tumor gebildet. «Wenn der Orthopäde zum Schluss kommen sollte, dass eine Operation unumgänglich ist, müsste ich wohl erneut mehrere Monate warten.»

Fast 400'000 Menschen warten seit über einem Jahr

Kevin Jordan ist kein Einzelfall: Die Wartezeiten im britischen Gesundheitswesen werden lang und länger. Fast 400'000 Menschen warten seit über einem Jahr auf einen Termin. Rund 7.5 Millionen Menschen warten insgesamt darauf, von einer medizinischen Fachperson begutachtet oder behandelt zu werden. Tendenz steigend.

Das hat verschiedene Gründe: Während der Pandemie sind die planbaren Eingriffe, wenn immer möglich, aufgeschoben worden, um die Spitäler zu entlasten. Dieser Rückstand ist bisher nicht aufgeholt worden.

Erschwerend kommt dazu, dass sich seit der Pandemie die Kündigungen von Ärztinnen und Ärzten sowie des Pflegepersonals häufen. Vielen ist die Arbeitsbelastung zu gross geworden. Gegenwärtig sind rund 55'000 Vollzeitstellen von medizinischem Fachpersonal nicht besetzt. Das entspricht gut 10 Prozent aller Stellen.

Warum streikt das Gesundheitspersonal?

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Es ist eine Premiere: Am 20. und 21. September 2023 streiken Assistenz- sowie Oberärztinnen und -ärzte erstmals gleichzeitig. Sie sind unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen und verlangen deutlich höhere Löhne. Gemäss einer Erhebung der BBC verdient eine Assistenzärztin oder ein Assistenzarzt umgerechnet 15.50 Franken pro Arbeitsstunde, ohne Zulagen. Und dieser Lohn sei in den letzten Jahren stetig gesunken, durch Sparprogramme und weil die Teuerung nur unzureichend ausgeglichen worden sei. Die Assistenz- und Oberärzteschaft verlangt eine Lohnerhöhung von 35 Prozent, um den Reallohnabbau der letzten Jahre aufzufangen. Doch die Regierung ist lediglich bereit, rückwirkend ab April dieses Jahres 6 Prozent mehr Lohn zu zahlen und eine Einmalprämie von 1250 Pfund auszurichten, um die gegenwärtige Teuerung von 7.8 Prozent abzufedern.

Das Angebot der Regierung ist für die Ärzteschaft unzureichend. Assistenz- und Oberärztinnen planen ab dem 2. Oktober erneut einen mehrtägigen Streik; der siebte Streik der Assistenzärzteschaft im laufenden Jahr.

Das Rekrutieren von medizinischem Fachpersonal im Ausland ist nach dem Brexit aufwendiger geworden: Seit Januar 2021 braucht ein Visum, wer im Vereinigten Königreich arbeiten will. Das verlängert die Rekrutierung von ausländischen Fachkräften. Im vergangenen Jahr sind rund 25'000 Pflegefachfrauen und -männer aus Nicht-EU-Ländern eingestellt worden – so viele wie noch nie.

Und schliesslich: Die Spitäler sind überlastet, weil viele Betten von Langzeitpatientinnen und -patienten belegt sind, die eigentlich in Pflegeeinrichtungen verlegt oder daheim gepflegt werden könnten. Doch um diese Einrichtungen auszubauen, fehlt das Geld. Was zur Folge hat, dass nicht genügend Spitalbetten für geplante Eingriffe zur Verfügung stehen, was wiederum die Wartezeiten verlängert.

Premierminister Rishi Sunak verspricht Besserung

Der konservative Regierungschef Rishi Sunak ist nun seit bald einem Jahr im Amt. Und er hat seither wiederholt beteuert, das staatliche Gesundheitswesen ins Lot zu bringen, habe für ihn Priorität. Dazu gehöre auch, die Wartezeiten auf ein erträgliches Mass zu senken. «Wir werden mehr Mittel zur Verfügung stellen», versprach Sunak am 30. Januar 2023 nach dem Besuch eines Krankenhauses.

Wie wirken sich die langen Wartezeiten aufs Wachstum aus?

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Wer auf eine Behandlung wartet, ist oft krankgeschrieben und bleibt der Arbeit fern. Das trifft in Grossbritannien gegenwärtig auf 2.5 Millionen Menschen zu, wie eine Erhebung des nationalen Statistikbüros (ONS) von Mai 2023 zeigt. Diese Zahl der Langzeitkranken im erwerbsfähigen Alter ist seit Beginn der Pandemie um 400'000 Personen gestiegen.

Mehrere Branchen der britischen Wirtschaft haben zunehmende Schwierigkeiten, Fachkräfte zu rekrutieren – was das Wirtschaftswachstum bremst.

Hinzu kommt, dass die Rekrutierung von Fachkräften im Ausland seit dem Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union Anfang 2021 wesentlich komplizierter und langwieriger geworden ist.

Die jährliche Wirtschaftsleistung Grossbritanniens (BIP) hat erst vor wenigen Wochen wieder das Vor-Pandemie-Niveau erreicht. Unter den G7-Ländern brauchte Grossbritanniens Wirtschaft am längsten, um nach der Pandemie wieder auf Touren zu kommen.

Rentner Kevin Jordan glaubt nicht, was Rishi Sunak verspricht: «Uns ist von der Regierung schon so vieles versprochen worden; 40 neue Spitäler, zum Beispiel. Wo sind sie geblieben?» Der 70-Jährige hofft weiterhin auf eine baldige Behandlung des Tumors in seinem linken Fuss, um wieder schmerzfrei gehen zu können.

10vor10, 20.9.23, 21:50 Uhr

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