Zum Inhalt springen

Header

Video
Taliban stehen kurz vor der Einnahme Kabuls
Aus Tagesschau vom 15.08.2021.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 55 Sekunden.
Inhalt

Umbruch in Afghanistan «Die grosse Frage ist: Halten die Taliban ihre Versprechungen?»

Stadt um Stadt haben die Taliban eingenommen, und das in atemberaubendem Tempo. Spätestens seit Sonntag steht fest: Die Machtübernahme ist nur noch eine Frage der Zeit. Wie genau das aussehen wird, ist noch nicht klar. Die heikelsten Fragen beträfen die künftige Rolle der aktuellen Regierung und die Rolle der Taliban, sagt SRF-Südasien-Korrespondent Thomas Gutersohn.

Thomas Gutersohn

Thomas Gutersohn

Indien- und Südasien-Korrespondent, SRF

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Thomas Gutersohn lebt seit 2016 im indischen Mumbai und berichtet für SRF aus Indien und Südasien. Gutersohn hat in Genf Internationale Beziehungen studiert.

SRF News: Klar ist, dass es zu einer Machtübernahme durch die Taliban kommen wird. Wie soll dieser Prozess vor sich gehen? 

Thomas Gutersohn: Beide Seiten, also die afghanische Regierung sowie die Taliban, bestätigen, dass sie Verhandlungen aufnehmen wollen, um eine friedliche Machtübergabe der Hauptstadt Kabul zu gewährleisten. Diese Verhandlungen sollen am Sonntag beginnen und können lange dauern. Gerade Verhandlungen mit den Taliban ziehen sich oft sehr lange hin. Insofern ist der Prozess dieser Machtübergabe der Hauptstadt noch nicht klar. Wichtig scheint beiden Parteien, dass die Machtübergabe friedlich verlaufen soll. Diese Gespräche bedeuten vor allem eines: Dass die Macht auch in Kabul sehr wahrscheinlich den Taliban übergeben wird und sie somit auch die Hauptstadt bald unter ihrer Kontrolle haben werden. 

Was sind die kritischen Punkte aus Ihrer Sicht? 

Die heikelsten Fragen werden jene sein, welche die künftige Rolle der aktuellen Regierung und die Rolle der Taliban betreffen. Wird die Macht komplett den Taliban übergeben und sie stellen eine neue Regierung? Oder werden aktuelle Vertreter der aktuellen Regierung künftig weiterhin eine Rolle spielen? Und wenn ja, in welchem Ausmass?

Die Taliban wollen vor allem eines: zurück an die Macht.

Der aktuelle Präsident Afghanistans, Aschraf Ghani, zeigte sich jüngst versöhnlich und lud die Taliban wiederholt ein, sich an der Regierung zu beteiligen. Doch im Moment sieht es eher nicht danach aus, als ob sich die Taliban mit einer solchen Teilnahme am aktuellen politischen System zufriedengeben werden – nur schon aufgrund des aktuellen Kräfteverhältnisses. Die Taliban haben in den letzten zehn Tagen praktisch alle wichtigen Städte unter ihre Kontrolle gebracht.  

Die Machtübernahme ist nun vollzogen: Welche Ziele verfolgen die Taliban für das Land? 

Die Taliban wollen vor allem eines: zurück an die Macht. Sie sahen sich während den letzten zwanzig Jahren als die rechtmässigen Machthaber des Landes und nannten sich selbst immer «Islamisches Emirat von Afghanistan», wie das Land vor dem Einmarsch der internationalen Truppen von 2001 hiess. Die Regierung verstanden sie als «Puppenregierung» der USA. Die Taliban betonen, sie wollten, dass islamische Werte in Afghanistan respektiert werden, aber sie sagen nicht, was dies genau beinhaltet. Fakt ist: Afghanistan ist schon jetzt eine Islamische Republik, wie Iran oder Pakistan, in dem zum Beispiel die Scharia Gesetz ist. Zeigen muss sich aber, ob sie mit der aktuellen Gesetzgebung einverstanden sind oder eine konservativere Auslegung des Islam verlangen.

Die Taliban bekräftigen, keine Rache üben zu wollen und Frauenrechte zu respektieren. Kann man diesen Versprechen glauben? 

Das ist die grosse Frage im Moment in Afghanistan. Halten die Taliban ihre Versprechungen? Sie sagen, dass sie es befürworten, wenn Frauen weiter einem Beruf nachgehen, allein aus dem Haus gehen. Das war den Frauen während der letzten Taliban-Herrschaft bis 2001 noch untersagt.

Ohne Rückhalt werden auch die Taliban es schwer haben, die Macht zu halten.

Die Taliban müssen jetzt beweisen, dass sie sich an ihre Worte halten. Doch wären die Taliban nicht die einzigen, die sich – nachdem sie an die Macht gekommen sind – nicht mehr an ihre Versprechungen erinnern, die sie zuvor gemacht haben.   

Sie sprechen es an: Von 1996 bis 2001 waren die Taliban schon einmal an der Macht und herrschten mit grösster Brutalität. Kann man die Taliban von damals und die von heute noch vergleichen? 

Die Taliban-Führung stellen zu einem grossen Teil noch dieselben Personen, die auch während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 eine Rolle gespielt haben. Einzelne Vertreter des Verhandlungsteams in Doha waren in Guantanamo, der aktuelle Führer, Hibatullah Achundsada, war früher einer der obersten Richter der Taliban. Fakt aber ist auch, dass sich die afghanische Bevölkerung vor allem in den Städten währen den letzten 20 Jahren verändert hat. Und das müssen die Taliban verstehen. Eine Herrschaft wie damals würde von der heutigen Bevölkerung von Afghanistan nicht mehr akzeptiert werden. Wenn die Taliban also daran interessiert sind, an der Macht zu bleiben, müssen sie sich verändern. Denn ohne Rückhalt werden auch die Taliban es schwer haben, in Afghanistan die Macht zu halten. 

Wie homogen sind die Taliban eigentlich? Gibt es unterschiedliche Gruppierungen, was später zu Konflikten führen könnte, wenn die Macht einmal errungen ist? 

Im Moment agieren die Taliban sehr homogen und diszipliniert. Wenn ihre Führung zum Beispiel eine Waffenruhe am Ende des Fastenmonats Ramadan ausspricht, wird diese von allen Kämpfern respektiert. Derzeit haben die Taliban aber auch alle ein erklärtes Ziel: zurück an die Macht. Wenn dieses erreicht ist, ist eine Zersplitterung ihrer Organisation nicht auszuschliessen.

Die Fragen stellte Lukas Schneider.

 

 

 

SRF4 News, 14.08.2021, 13:30 Uhr;

Jederzeit top informiert!
Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.
Schliessen

Jederzeit top informiert!

Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden. Mehr

Push-Benachrichtigungen sind kurze Hinweise auf Ihrem Bildschirm mit den wichtigsten Nachrichten - unabhängig davon, ob srf.ch gerade geöffnet ist oder nicht. Klicken Sie auf einen der Hinweise, so gelangen Sie zum entsprechenden Artikel. Sie können diese Mitteilungen jederzeit wieder deaktivieren. Weniger

Sie haben diesen Hinweis zur Aktivierung von Browser-Push-Mitteilungen bereits mehrfach ausgeblendet. Wollen Sie diesen Hinweis permanent ausblenden oder in einigen Wochen nochmals daran erinnert werden?

Meistgelesene Artikel

Nach links scrollen Nach rechts scrollen

73 Kommentare

Navigation aufklappen Navigation zuklappen
  • Kommentar von Christian Keckeis  (chraschi)
    Super. Jetzt wurden sie geschlagene 20 Jahre lang bekämpft. Gebracht hats nichts. Kaum zieht man sich zurück übernehmen sie die Macht. So viel zum Sinn solcher endlosen Kriege.
  • Kommentar von Alois Keller  (eyko)
    Aufgrund der eskalierenden Gewalt in Afghanistan rechnen Politiker und Flüchtlingshilfswerke mit mehr Flüchtlingen aus Afghanistan nach Europa. Es ist naiv zu glauben, dass der Vormarsch der Taliban und die Gewalt in der Kriegsregion keine migrationspolitischen Folgen hat. Die Reichen sind bereits ausgeflogen, die Armen bleiben zurück und viele machen sich auf den langen Weg nach Europa. Europa muss helfen, die fliehenden Menschen vor Ort in der Region,zu versorgen. Dafür muss Geld bereitstehen.
    1. Antwort von Maciek Luczynski  (Steine)
      Für Kriege haben wir doch die NATO ?

      Warum gibt es keine entsprechende Organisation für die Verteilung der Flüchtlinge, die durch NATO Kriege entstehen ?
  • Kommentar von Thomas Keller  (xedos2000)
    In ein paar Monaten wird sich das Land stabilisiert haben. Es wird denn eine Islamische Staatsform haben und die Scharia als Gesetz. So wie andere Länder auch: Iran, Saudi Arabien und andere. So ungewöhnlich scheint mir das jetzt nicht.
    Und dass die USA das Land nicht in den Westen integrieren konnten war absehbar.
    1. Antwort von Erik Eisermann  (ECATWEAZLE)
      Guten Tag.
      das wird sich kaum stabilisieren, wenn ein Teil seines Einkommens auf Opium beruht. Das hat nirgends funktioniert, weil damit Geld, Korruption und Benachteiligungen Einzug halten.
      Freundliche Grüsse, ee