Stadt um Stadt haben die Taliban eingenommen, und das in atemberaubendem Tempo. Spätestens seit Sonntag steht fest: Die Machtübernahme ist nur noch eine Frage der Zeit. Wie genau das aussehen wird, ist noch nicht klar. Die heikelsten Fragen beträfen die künftige Rolle der aktuellen Regierung und die Rolle der Taliban, sagt SRF-Südasien-Korrespondent Thomas Gutersohn.
SRF News: Klar ist, dass es zu einer Machtübernahme durch die Taliban kommen wird. Wie soll dieser Prozess vor sich gehen?
Thomas Gutersohn: Beide Seiten, also die afghanische Regierung sowie die Taliban, bestätigen, dass sie Verhandlungen aufnehmen wollen, um eine friedliche Machtübergabe der Hauptstadt Kabul zu gewährleisten. Diese Verhandlungen sollen am Sonntag beginnen und können lange dauern. Gerade Verhandlungen mit den Taliban ziehen sich oft sehr lange hin. Insofern ist der Prozess dieser Machtübergabe der Hauptstadt noch nicht klar. Wichtig scheint beiden Parteien, dass die Machtübergabe friedlich verlaufen soll. Diese Gespräche bedeuten vor allem eines: Dass die Macht auch in Kabul sehr wahrscheinlich den Taliban übergeben wird und sie somit auch die Hauptstadt bald unter ihrer Kontrolle haben werden.
Was sind die kritischen Punkte aus Ihrer Sicht?
Die heikelsten Fragen werden jene sein, welche die künftige Rolle der aktuellen Regierung und die Rolle der Taliban betreffen. Wird die Macht komplett den Taliban übergeben und sie stellen eine neue Regierung? Oder werden aktuelle Vertreter der aktuellen Regierung künftig weiterhin eine Rolle spielen? Und wenn ja, in welchem Ausmass?
Die Taliban wollen vor allem eines: zurück an die Macht.
Der aktuelle Präsident Afghanistans, Aschraf Ghani, zeigte sich jüngst versöhnlich und lud die Taliban wiederholt ein, sich an der Regierung zu beteiligen. Doch im Moment sieht es eher nicht danach aus, als ob sich die Taliban mit einer solchen Teilnahme am aktuellen politischen System zufriedengeben werden – nur schon aufgrund des aktuellen Kräfteverhältnisses. Die Taliban haben in den letzten zehn Tagen praktisch alle wichtigen Städte unter ihre Kontrolle gebracht.
Die Machtübernahme ist nun vollzogen: Welche Ziele verfolgen die Taliban für das Land?
Die Taliban wollen vor allem eines: zurück an die Macht. Sie sahen sich während den letzten zwanzig Jahren als die rechtmässigen Machthaber des Landes und nannten sich selbst immer «Islamisches Emirat von Afghanistan», wie das Land vor dem Einmarsch der internationalen Truppen von 2001 hiess. Die Regierung verstanden sie als «Puppenregierung» der USA. Die Taliban betonen, sie wollten, dass islamische Werte in Afghanistan respektiert werden, aber sie sagen nicht, was dies genau beinhaltet. Fakt ist: Afghanistan ist schon jetzt eine Islamische Republik, wie Iran oder Pakistan, in dem zum Beispiel die Scharia Gesetz ist. Zeigen muss sich aber, ob sie mit der aktuellen Gesetzgebung einverstanden sind oder eine konservativere Auslegung des Islam verlangen.
Die Taliban bekräftigen, keine Rache üben zu wollen und Frauenrechte zu respektieren. Kann man diesen Versprechen glauben?
Das ist die grosse Frage im Moment in Afghanistan. Halten die Taliban ihre Versprechungen? Sie sagen, dass sie es befürworten, wenn Frauen weiter einem Beruf nachgehen, allein aus dem Haus gehen. Das war den Frauen während der letzten Taliban-Herrschaft bis 2001 noch untersagt.
Ohne Rückhalt werden auch die Taliban es schwer haben, die Macht zu halten.
Die Taliban müssen jetzt beweisen, dass sie sich an ihre Worte halten. Doch wären die Taliban nicht die einzigen, die sich – nachdem sie an die Macht gekommen sind – nicht mehr an ihre Versprechungen erinnern, die sie zuvor gemacht haben.
Sie sprechen es an: Von 1996 bis 2001 waren die Taliban schon einmal an der Macht und herrschten mit grösster Brutalität. Kann man die Taliban von damals und die von heute noch vergleichen?
Die Taliban-Führung stellen zu einem grossen Teil noch dieselben Personen, die auch während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 eine Rolle gespielt haben. Einzelne Vertreter des Verhandlungsteams in Doha waren in Guantanamo, der aktuelle Führer, Hibatullah Achundsada, war früher einer der obersten Richter der Taliban. Fakt aber ist auch, dass sich die afghanische Bevölkerung vor allem in den Städten währen den letzten 20 Jahren verändert hat. Und das müssen die Taliban verstehen. Eine Herrschaft wie damals würde von der heutigen Bevölkerung von Afghanistan nicht mehr akzeptiert werden. Wenn die Taliban also daran interessiert sind, an der Macht zu bleiben, müssen sie sich verändern. Denn ohne Rückhalt werden auch die Taliban es schwer haben, in Afghanistan die Macht zu halten.
Wie homogen sind die Taliban eigentlich? Gibt es unterschiedliche Gruppierungen, was später zu Konflikten führen könnte, wenn die Macht einmal errungen ist?
Im Moment agieren die Taliban sehr homogen und diszipliniert. Wenn ihre Führung zum Beispiel eine Waffenruhe am Ende des Fastenmonats Ramadan ausspricht, wird diese von allen Kämpfern respektiert. Derzeit haben die Taliban aber auch alle ein erklärtes Ziel: zurück an die Macht. Wenn dieses erreicht ist, ist eine Zersplitterung ihrer Organisation nicht auszuschliessen.
Die Fragen stellte Lukas Schneider.