Vor einem Jahr ist Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt worden, zum zweiten Mal nach 2016. Und bereits nach neun Monaten im Amt hat «Trump 2.0» tiefe Spuren in der US-amerikanischen Gesellschaft hinterlassen. Barbara Colpi, SRF-Korrespondentin in Washington, und Andrea Christen, SRF-Korrespondent in Chicago, waren hautnah dabei. So haben sie das vergangene Jahr erlebt.
SRF News: Vor einem Jahr ist Trump zum zweiten Mal zum US-Präsidenten gewählt worden. Wie war die Stimmung kurz nach der Wahl in Washington?
Barbara Colpi: In Washington waren die Leute mehrheitlich schockiert. Man muss wissen: Hier haben 90 Prozent ihre Stimme Kamala Harris gegeben.
Ein Paar aus der Nachbarschaft ist tatsächlich nach Frankreich gezogen.
Viele sind danach in eine Art Schockstarre verfallen, manche haben sogar vom Auswandern gesprochen. Tatsächlich ist ein Paar aus der Nachbarschaft nach Frankreich gezogen. Die meisten sind aber nicht gegangen, sondern sind daran, sich irgendwie von diesem Schock zu erholen.
Was ist jetzt euer Eindruck, wenn ihr über das Land schaut? Wie hat sich seitdem die Stimmung verändert?
Andrea Christen: Die Politik ist immer Thema. Früher konnte man auch über andere Dinge reden, aber heute spreche ich häufig nach zehn Minuten über Politik, selbst mit Fremden.
Die Intensität dieser Regierung, dass sie den Leuten keine Verschnaufpause lässt – das bedrückt sie.
Barbara Colpi: Interessant sind auch die gemässigten Wählerinnen und Wähler, die letztes Jahr Trump gewählt haben. Da kommen schon Zweifel auf. Ich habe kürzlich eine Soja-Farmerin in Iowa besucht, die unter den hohen Zöllen leidet. Sie hat sich durchaus gefragt, ob Trump die Farmer vergessen habe. Wobei sie auch grosse Hoffnungen in das Treffen von Trump mit Xi Jinping gesetzt hat. Tatsächlich wurde bei diesem Treffen eine Lösung für die Soja-Farmer gefunden.
Wie ist das, wenn man den Leuten als Schweizer Journalistin oder Journalist begegnet?
Andrea Christen: Was mir immer wieder auffällt, ist, wie sich Leute bei mir entschuldigen. Ich habe das zum Beispiel bei einem Arzt erlebt. Er hat mich gefragt, ob ich aktuell viel Stress habe. Ich sagte: «Ja, den habe ich.» Und als ich hinzugefügt habe, dass ich über US-Politik berichte, hat er sich entschuldigt. So etwas hört man vor allem von linken Amerikanerinnen und Amerikanern. Aber ganz egal, was man von Trump hält: Ich glaube, diese Intensität, das Omnipräsente dieser Regierung, dass sie den Leuten keine Verschnaufpause lässt – das bedrückt sie.
Viel zu reden gibt in den USA die Migrationspolitik. Was bekommt ihr davon mit?
Andrea Christen: Wie Trump gegen papierlose Migrantinnen und Migranten vorgeht, ist speziell in demokratisch regierten Städten und insbesondere in Chicago spürbar. Es lässt sich kaum von der Hand weisen, dass Trump damit besonders Städte bestraft, die ihn nicht gewählt haben. Hier fahren nicht gekennzeichnete Autos mit maskierten Zivilbeamten herum, sie nehmen Menschen mitten auf der Strasse fest.
Barbara Colpi: Latinos und Latinas – egal, ob sie legal oder illegal in den USA leben – haben pauschal Angst. Deshalb bleiben sie, wenn es irgendwie geht, zu Hause.
Es gibt ein ganz konkretes Beispiel aus Washington: Hier ist der ganze Essenslieferdienst zusammengebrochen. Also Uber Eats, Door Dash und wie sie alle heissen. Dort arbeiten zu einem grossen Teil Menschen aus Lateinamerika, auch viele Asylsuchende mit einer Arbeitserlaubnis. Diese Menschen haben einen legalen Aufenthaltsstatus, aber sie trauen sich nicht auf die Strasse. Das hat zur Folge, dass man zum Teil über eine Stunde lang auf eine Bestellung wartet – eine Bestellung, die vorher in zehn Minuten da war.
Das Gespräch führte Reena Thelly.