Aus bis zu 20 Kräutern und Blattgemüsen macht Ira Ambartsumjan die Füllung für Shengjalow Hats, für das heisse, ölige Fladenbrot aus Bergkarabach. Sie hackt ein Büschel Kräuter fein – Koriander, Lauch, Sauerampfer, Brennnesseln. Ira wäre schon lange pensioniert, hat aber kürzlich in Eriwan einen Imbissstand aufgemacht. «Hände und Füsse funktionieren noch, warum sollte ich zu Hause warten, bis der Staat uns ein paar Groschen auszahlt?», fragt sie. Ira ist im September aus Bergkarabach nach Eriwan geflüchtet.
«Wir hörten, man habe für uns Armenier ein Gefangenenlager gebaut», erzählt Iras Tochter Rosa Sajadjan von den Tagen, als Karabachs Hauptstadt Stepanakert von aserbaidschanischen Truppen umzingelt war. «Ich glaube, die Gerüchte wurden bewusst gestreut, um uns in Panik zu versetzen.»
«Deswegen», sagt sie, «sind alle sofort geflohen, als die Strasse nach Armenien geöffnet wurde.» Für die rund 60 Kilometer brauchten sie 38 Stunden. Unterwegs starben viele der Flüchtenden: Bergkarabach war unter einer aserbaidschanischen Blockade gestanden. Es hatte an Essen und Medikamenten gefehlt. In Eriwan sind sie vorerst in Sicherheit. Der armenische Staat zahlt ihnen etwa 100 Franken pro Monat. Das sei nicht genug zum Leben, sagt Rosa. Die Mieten seien hoch, die Arbeitssuche schwer.
Verheerende Explosion
«Wäre die Explosion nicht gewesen, wäre alles viel einfacher», sagt Armine Wanjan. Auch sie flüchtete im September aus Stepanakert. Im Chaos explodierte dort ein Treibstofflager, als vor allem Männer Benzin für die Ausreise holen wollten. Bis heute ist die Zahl der Toten unklar, es könnten mehr als 200 gewesen sein. «Die Szene war apokalyptisch», sagt Armine, «es rannten halbnackte, verbrannte Männer durch die Stadt.»
Es gebe Familien, die Vater, Ehemann und Söhne verloren hätten – die Ernährer, sagt Armine Wanjan. Sie ist Fotografin und will sie mit einer Ausstellung unterstützen. In Karabach war sie Beamtin in der Verwaltung des Gebiets. Das geht in Armenien nicht.
«Nur ein kindischer Traum»
«Beamte brauchen einen armenischen Pass», sagt sie. Wie alle aus Karabach habe sie einen, aber die dort ausgestellten Pässe würden im armenischen Stellenmarkt nicht anerkannt. «Alles, woran wir geglaubt haben, war nur ein kindischer Traum», sagt Armine. «Es ist jetzt klar, dass Bergkarabach ein Fake-Land war.»
Neues Leben nach der Flucht aus Bergkarabach
Doch nicht alle sind dieser Meinung. Die meisten Menschen aus Karabach und auch einige in Armenien geben dem armenischen Premier Nikol Paschinjan die Schuld am Verlust des Gebiets. Unter Paschinjan ist in Armenien aber auch Demokratie eingekehrt, und er sucht einen Ausweg aus dem Konflikt mit Aserbaidschan. Viele stützen seinen Kurs. Der Streit sorgt in Armenien für Spannungen.
Doch die Solidarität mit den Neuankömmlingen bleibt gross. Das zeigt sich in Ira Ambartsumjans Imbissbude: Viele Eriwaner kaufen gerne ein Fladenbrot, um die Geflüchteten zu unterstützen. «Tagsüber geht es, da bin ich hier, arbeite, plaudere», sagt Ira. «Aber nachts bin ich dort. Bei mir – in Stepanakert.»
«Echo der Zeit» ist die älteste politische Hintergrundsendung von Radio SRF: Seit 1945 vermittelt die Sendung täglich die wichtigsten Nachrichten, Berichte, Reportagen, Interviews und Analysen über das aktuelle Zeitgeschehen
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