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Von den USA fallengelassen «Die Kurden haben nicht aus ihrer Geschichte gelernt»

Seit 2017 patrouillieren US-Soldaten zusammen mit kurdischen Kämpfern der YPG-Miliz im Nordosten Syriens Seite an Seite gegen den Islamischen Staat.

Nun sagt US-Präsident Donald Trump, der IS sei besiegt, die USA zögen sich zurück. Und plötzlich stehen die kurdischen Kämpfer der YPG alleine da. Entsprechend verraten fühlen sie sich. Günter Seufert kennt das Kurdengebiet im Norden Syriens gut, er forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Günter Seufert

Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien CATS

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Seufert ist der Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Davor war er unter anderem als freier Autor und Journalist in Istanbul tätig.

SRF News: Der türkische Präsident Recep Tayip Erdogan bezeichnet die Kurdenmiliz als Terroristen, die man zurückbinden müsse. Sind sie das?

Günter Seufert: Das kann man so nicht sagen. Sie werden international nicht so eingestuft, sondern nur von der Türkei. Die beruft sich dabei auf die enge Verbindung, die die PKK, die als Terrororganisation eingestuft ist, mit der YPG hat. Aber die YPG selbst wird nirgends als Terrororganisation eingestuft.

Was hat Erdogan davon, wenn er in den Norden Syriens einmarschiert?

Er würde vor allen Dingen innenpolitisch gewinnen. Bei den letzten Kommunalwahlen hat seine Partei sehr starke Verluste erlitten, weil erstmals in der Geschichte des Landes die Kurdenpartei HDP zusammen mit säkularen türkischen Parteien gegen den Präsidenten Stellung bezogen hatte. Für Erdogan ist es nun wichtig, diese Front der Opposition auseinanderzudividieren. Und das kann er am besten, wenn er im Namen des Nationalismus gegen die sogenannte kurdische Bedrohung in Syrien vorgeht.

Er hofft auf einen innenpolitischen Gewinn bei relativ kleinem Risiko?

Nein, bei sehr grossem Risiko, denn die Türkei hat ja bereits 2017 und 2018 zwei Enklaven im westlichen Nordsyrien besetzt. Jetzt geht es darum, einen 480 Kilometer langen und 30 Kilometer tiefen Streifen zu besetzen. Das ist eine Operation von ganz anderem Ausmass – in einer Zeit, in der der Syrienkrieg zu einem Ende zu kommen scheint.

Das Risiko, das Erdogan aussenpolitisch eingeht, ist schwer abzuschätzen.

Und es ist eine Operation, die sich nicht nur gegen das syrische Regime und gegen die Kurden, sondern auch gegen die iranischen und russischen Interessen in Syrien richtet. Von daher ist das Risiko, das Erdogan aussenpolitisch eingeht, schwer abzuschätzen.

Werden sich die Kurden nach Süden verschieben oder Widerstand leisten?

Sie sagen, sie werden Widerstand leisten. Das ist aber schwierig, weil die Kurden gerade in den letzten Wochen auf Anraten der USA ihre befestigten Stellungen in der Region geräumt haben. Die USA hatten sie davon überzeugt, dass eine Invasion der Türkei nur verhindert werden könne, wenn sie die Stellungen räumen und sich von der Grenze zurückziehen – was nun offensichtlich nicht der Fall ist.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Kurden verraten fühlen. Man denke an Irak 1991. Haben die Kurden in Syrien den USA tatsächlich vertraut?

Es sieht wohl so aus. Die Kurden haben offensichtlich nicht aus ihrer Geschichte gelernt.

Die Kurden haben sich auf ein Hasardeurspiel eingelassen und zahlen jetzt die Rechnung dafür.

Die USA haben den Kurden niemals gesagt: «Wir werden uns dafür einsetzen, dass eure Selbstverwaltung Teil Syriens wird.» Die Kurden haben sich auf ein Hasardeurspiel eingelassen und zahlen jetzt die Rechnung dafür.

Das kurdische Autonomiegebiet nimmt fast ein Drittel Syriens ein. Ist das nicht etwas viel?

Ja, es betrifft bei weitem mehr Gebiete als die tatsächlichen kurdischen Siedlungsgebiete. Das Dumme ist nun, dass es zwar grosse kurdische Siedlungsgebiete im Norden Syriens gibt, aber eben nicht im Süden. Wenn sich nun die Kurden in den Süden zurückziehen, dann können sie zwar ihr Überleben sichern. Aber sie haben keine demografische Legitimation mehr.

Das Gespräch führte Simon Leu.

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