Sie trägt etwas Lippenstift und Rouge auf. Die 75-jährige Belén will sich wieder schön fühlen. Doch das Alter zeichnet. Die Mexikanerin erinnert sich gerne an die goldenen Zeiten der Kabaretts zurück, als ihre Freier sie noch zum Essen einluden.
Ab 40 werden die Freier weniger.
Wie viele es waren, weiss die ehemalige Sexarbeiterin heute nicht mehr. Doch sie weiss, dass ein Beruf, der vom Aussehen und Jungsein lebt, ein Ablaufdatum hat. «Ab 40 werden die Freier weniger. Sie zahlen weniger oder wollen dich überhaupt nicht mehr», erzählt uns Belén. «Du bist 60?», fragten sie mich. «Das ist viel zu alt! Ich will eine Jüngere!»
In guten Zeiten hat die Mexikanerin umgerechnet etwa 7 Franken pro Dienstleistung erhalten. Das hat zum Überleben gereicht, nicht zum Leben. Und schon gar nicht, um fürs Alter vorzusorgen. In Mexiko ist die Rente gering; staatliche Sozialleistungen gibt es kaum. Umso wichtiger ist daher dieses Altenheim – das einzige seiner Art weltweit. Seit 2006 steht das rosa Kolonialhaus inmitten von Mexiko City im Rotlichtviertel. Das nach der mexikanischen Göttin der Liebe und Sexualität benannte «Casa Xochiquetzal» bietet seinen 12 Bewohnerinnen drei Mahlzeiten am Tag, ärztliche Versorgung, ein eigenes Zimmer, Sport- und Bildungsangebote. Die Einrichtung finanziert sich allein aus Privatspenden. Von der Regierung gibt es seit der Pandemie keine Unterstützung mehr.
Warum, weiss die Leiterin der Seniorinnenresidenz, Jesica Vargas. «Das hat mit der Doppelmoral in der Gesellschaft zu tun. Als junge Frauen werden sie benutzt und dann als Alte verurteilt; niemand will ihnen helfen. Es heisst immer ‘Sie haben sich dieses Leben ja selbst ausgesucht’.»
Doch für viele ist dieses Leben keine freie Entscheidung. 76 Prozent der Frauen in Mexiko leben in Armut. 3 von 5 erfahren Gewalt. Oft ist das Leben als Prostituierte die einzige Option, die diese Frauen haben. Auch, um ihre eigenen Kinder durchzubringen. Und genau die sind es, die ihre Mütter im Alter allein lassen. Jesica erzählt, was die meisten ehemaligen Sexarbeiterinnen erleben: «Wenn diese Frauen alt werden und ihre Kinder erfahren, dass sie mal Prostituierte waren, verstossen, schlagen und demütigen sie sie. Es ist schlimm für sie, so einsam zu enden.»
Das sind einige Bewohnerinnen des «Casa Xochiquetzal»
Auch Belén hat ein bewegtes Leben hinter sich. Eigentlich wollte sie Schauspielerin werden. Doch mit 17 hat sie bereits eine 2-jährige Tochter und muss für sie sorgen. «Eine Freundin schleppte mich in eine Bar, ich bin da so reingerutscht,» erinnert sie sich zurück. Die Männer zeigten ihr das Nachtleben von Mexiko-Stadt und eine Welt, von der sie bis heute fasziniert ist.
Doch Belén hat viele Schläge erlebt. Als Kind von ihren Eltern und als Erwachsene von ihrem Mann, mit dem sie 5 Kinder hat. Am meisten hat sie doch die Liebe gebrochen. Ihr lebenslanges Dilemma – sie verliebt sich immer in verheiratete Männer, bei denen sie nie die Nummer eins ist. Der Letzte, ihre grosse Liebe, verlässt sie, als seine Familie nach 10 Jahren heimlichem Liebesglück von der Affäre erfährt. Sie verliert die Wohnung, die er ihr als gemeinsames Nest finanziert hatte. Ohne Dach, mit gebrochenem Herzen und ohne Hilfe der Familie findet sie dann schliesslich vor neun Jahren ein neues Zuhause in diesem Altenheim.
Das «Casa Xochiquetzal» ist nicht nur Heimat für viele Frauen, sondern auch ein Ort, um Neues zu lernen, sich zu beschäftigen und warme Mahlzeiten zu erhalten. Wöchentlich gibt es Aktivitäten für rund 300 Frauen, die auf der Strasse arbeiten. Heute nehmen 25 Frauen an einem Kochkurs teil. Sie lernen, Zimtschnecken zu backen, die sie dann selbst verkaufen. Für die Frauen ist es ein Zusatzverdienst in schwierigen Zeiten. «Seit der Pandemie gibt es weniger Arbeit. Manchmal habe ich fünf Kunden am Tag, manchmal nur einen. Man muss gucken, wo man bleibt. Also lerne ich hier, Brot zu backen, um es zu verkaufen,» sagt eine der Teilnehmerinnen.
Geschätzt 42 Millionen Menschen weltweit befinden sich in der Prostitution, verkaufen ihren Körper für Geld. 80 Prozent von ihnen sind Frauen. Auf der Strasse sind sie Konkurrentinnen. Sie kämpfen ums Überleben, um jeden Freier.
Lieben kann man nur einen anderen Menschen.
Doch heute, in diesem Altenheim, müssen sie an einem Strang ziehen. Für Sauberkeit und Ordnung sind sie selbst verantwortlich. Das heisst: Sich absprechen für die Hausarbeit, zusammenhalten, miteinander arbeiten. Das ist oft nicht einfach. Es kommt zu Konflikten zwischen den betagten Damen.
Dennoch bezeichnet Belén ihre Mitbewohnerinnen als ihre Familie. Immerhin sind sie da, sie teilen sich ein Haus und auch ihr Leben, irgendwie. Während ihre Kinder und ihre Männer nicht mehr präsent sind. Der Staat sowieso nicht. Seit sie hier ist, weiss sie sicher: «Wir alle wissen, wie man begehrt, aber nicht wie man liebt. Das ist ein grosser Unterschied. Ich kann ein Kleid begehren oder ein Parfum oder Schuhe. Aber lieben kann man nur einen anderen Menschen.»
Und von Liebe träumt Belén auch heute mit 75 Jahren noch. Es muss kein Märchenprinz mehr sein, sagt sie. Aber einer, der ihr den Kopf krault. Im weltweit einzigen Altenheim für Sexarbeiterinnen bekommt Belén zumindest zum ersten Mal ein Dach über dem Kopf, ohne dass eine Gegenleistung erwartet wird. Das weiss die Mexikanerin zu schätzen und fühlt nun erstmals, dass es nicht um Begehren geht, sondern um Liebe. Liebe zum Nächsten und zu sich selbst.