Zum Inhalt springen

Zwischen Russland und der EU Der «georgische Traum» droht zum Albtraum zu werden

Die Bevölkerung möchte der EU beitreten, doch die Regierung wird immer europakritischer.

Vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis haben sich hunderte Menschen zu einer Solidaritätsdemo mit der Ukraine versammelt. «Georgien und die Ukraine haben denselben Feind – Russland», sagt der Demonstrant Gio. «Wir protestieren hier, weil die georgische Regierung eine Marionette Russlands ist.»

80 Prozent der Menschen möchten in die EU

Box aufklappen Box zuklappen

Georgien sorgte jüngst für weltweite Schlagzeilen: Massive Proteste zwangen die Regierung zum Rückzug eines neuen Gesetzes, das Kritiker als repressiv sahen und als Gefahr für die Ambitionen des Landes, der EU beizutreten. Die Regierung gibt sich in den letzten Jahren immer autoritärer und europakritischer, doch in Georgien befürworten 80 Prozent der Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft. Trotzdem bleibt die Regierungspartei seit Jahren die stärkste Kraft im Land.

In liberalen Kreisen Georgiens ist es eine beliebte These: Die Regierung der Partei «Georgischer Traum» werde vom Kreml kontrolliert. Beweise gibt es dafür nicht, doch die Regierung wird immer autoritärer und verbaut damit den Weg Georgiens zu seinem Langzeitziel, EU-Mitglied zu werden. Dennoch dominiert die Partei die georgische Politik, in gewissen Landesteilen herrscht sie uneingeschränkt. Zum Beispiel in Satschchere.

Regierungspartei holte 80 Prozent der Stimmen

Im 6000-Seelen-Städtchen, etwa zweieinhalb Autostunden nordwestlich der Hauptstadt Tiflis, hat die Regierungspartei zuletzt über 80 Prozent der Stimmen geholt. Das ist kein Zufall: In einem Vorort von Satschchere wurde Bidsina Iwanischwili geboren, der reichste Mann Georgiens und Gründer des «Georgischen Traums». Iwanischwili hat einen Teil seines Vermögens demonstrativ in seine Heimatregion investiert.

Viele Häuser sind von oben zu sehen. Zwischen ihnen liegt Schnee. Im Hintergrund eine erhöhte Ebene.
Legende: Satschchere ist eine Kleinstadt in Georgien und liegt auf einer Höhe von etwa 510 Meter. SRF/Calum MacKenzie

«Vor Iwanischwili gab es hier nichts Besonderes», sagt der junge Lewan, den wir am Markt im Ortskern antreffen. Er zeigt auf die mittelalterliche Festung, die auf einem Felsen über der Stadt thront. «Er hat unser Wahrzeichen restaurieren lassen, schon das ist für mich Grund, seine Partei zu wählen.» Aber ohnehin, so Lewan, sei die Opposition für ihn unwählbar. «Die wollen uns in einen neuen Krieg ziehen», sagt er. «Klar stehe ich hinter der Ukraine, aber die Opposition verlangt, dass Georgien eine zweite Front gegen Russland eröffne. Das kann ich nicht unterstützen.»

Andere Sorgen in Satschchere

Lewan betet hier die Hetze der Regierungspartei gegen die Opposition nach. Mit der Erinnerung an die russische Invasion Georgiens im Jahr 2008 lassen sich Ängste schüren. Anders als in Tiflis sehen hier wenige Menschen die Ukraine als Priorität. Doch das hat nicht nur mit der Angst vor Russland zu tun.

In Satschchere haben die Menschen drängendere Sorgen. Die Region gehört zu den ärmsten des Landes, und bald wird klar, dass Iwanischwilis Investitionen das Leben hier kaum verbessert haben.

Junge Männer demonstrieren gegen den Krieg
Legende: In Georgien finden auch Solidaritätsdemos für die Ukraine statt. In manchen Orten gibt es aber drängendere Sorgen als den Krieg. Reuters/IRAKLI GEDENIDZE

«Viele meiner Bekannten sind weggezogen, viele haben es noch vor», sagt eine Frau namens Tinatin. «Die wirtschaftliche Lage beschäftigt uns. Ich will auch weg, aber wenn möglich komme ich zurück, um der Stadt etwas zurückzugeben.»

Trotz «Georgischem Traum» wird es nicht besser

Am Markt ist fast alles zu kaufen, von frischem Brot über Lederwaren bis hin zu Elektronik-Ersatzteilen. Eka betreibt einen Spielwarenstand. Bei den letzten Wahlen hat sie die Regierungspartei gewählt. «Beim nächsten Mal gehe ich aber wohl gar nicht wählen», sagt Eka. «Jedes Mal haben wir den ‹Georgischen Traum› gewählt und gehofft, dass etwas besser wird. Aber es geschieht nichts. Aber wen kann man denn sonst wählen? Der Opposition traue ich nicht.»

Obststand mit vielen gelben und roten Äpfel in schwarzen Kisten. Dahinter steht eine Frau.
Legende: Am Markt von Satschchere kann man fast alles kaufen. SRF/Calum MacKenzie

Der Besuch in Satschchere zeigt: Der Regierung gelingt es, die weitgehend gespaltene Opposition zu diskreditieren. Dennoch ist selbst in ihrer Hochburg Satschchere kaum Begeisterung für die regierende Partei zu spüren, die sich «Georgischer Traum» nennt.

Dazu äussert sich die Partei selbst nicht. Im Rathaus von Satschchere, wo sie selbstverständlich auch die Lokalregierung dominiert, will niemand mit Radio SRF sprechen.

Rendez-vous, 31.03.2023, 12:30 Uhr

Meistgelesene Artikel