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Bilanz des Präsidialjahrs 2022 Ignazio Cassis: Bundespräsident im Krisenmodus

Wie hat sich der FDP-Magistrat in seinem Präsidialjahr geschlagen? Politikerinnen und Politiker ziehen Bilanz.

Mit so vielen Turbulenzen hat Ignazio Cassis wohl nicht gerechnet, als er Anfang Januar Bundespräsident wurde. Er musste sich den diplomatischen Weg durch den Ukraine-Krieg bahnen, die Schweizer Neutralität überdenken und über Sanktionen nachdenken. Dazu hatte er stets das EU-Dossier im Nacken, in dem es einfach keine Fortschritte gibt.

SVP: Mehr Härte bei Interessen der Schweiz

Franz Grüter hat als Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates oft mit Ignazio Cassis zu tun. Menschlich schätze er ihn sehr, sagt der SVP-Nationalrat. «Er ist ein Humanist, ein sehr menschlicher Typ mit Einfühlungsvermögen. Das ist seine Stärke, in gewissen Situationen aber auch seine Schwäche.» Dann nämlich, so Grüter, wenn es darum gehe, hart die Interessen der Schweiz zu vertreten.

Dies zum Beispiel bei den Sanktionen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg. Zunächst wollte Cassis die EU-Sanktionen gegen Russland nicht übernehmen. Unter grossem Druck aus der EU und den USA schloss sich die Schweiz dann doch den Massnahmen an, nicht zur Freude der SVP. Cassis hätte stärker auftreten können, glaubt Franz Grüter: «Das sind natürlich Entscheide des Gesamtbundesrats. Aber als Bundespräsident und Aussenminister hatte Ignazio Cassis eine spezielle Rolle.»

Mitte: «Den Konsens im Bundesrat überschätzt»

Neutralität – was bedeutet sie aktuell? Bundespräsident Cassis liess einen Bericht erarbeiten und wollte die Neutralität neu definieren. Im Gesamtbundesrat lief er damit auf. Mitte-Politiker Pirmin Bischof, Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats, meint dazu: «Er hat wahrscheinlich den Konsens im Bundesrat überschätzt.» Doch er habe sich dann auch nach dem Entscheid des Gesamtbundesrats gerichtet.

Mehr Konsens und Zusammenhalt in den Bundesrat bringen, das habe Cassis nicht geschafft, meint Bischof. Aber es sei auch ein schwieriges Jahr gewesen.

Rückendeckung von der SP

Viel Kritik musste Cassis einerseits von der SVP einstecken, besonders wegen der Sanktionen. Auch die Lugano-Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine sei zu früh gekommen. Andererseits gab es auch Kritik von Links und aus der Mitte: Cassis hätte weitergehende Sanktionen gegen den Iran verabschieden sollen. Und mit dem EU-Dossier müsse er endlich vorwärtsmachen.

Rückendeckung erhält der Bundespräsident ausgerechnet aus den linken Reihen. SP-Nationalrätin Jacqueline Badran meint: «Ich finde, manchmal wird immer sehr schnell kritisiert. Das ist nicht immer ganz gerechtfertigt.» Beispiel EU: Ein neues Verhandlungsmandat müsse sehr sorgfältig vorbereitet werden, sagt Badran. Sonst ende es wieder in einer Sackgasse. Zuerst müssten die innenpolitischen Fragen geklärt werden. Und das versuche Ignazio Cassis durchaus.

Gute Noten von der eigenen Partei

Wenig überraschend zeigt sich der Präsident der FDP – der Partei von Cassis – sehr zufrieden mit Bundespräsident Ignazio Cassis. Thierry Burkart sagt: «Er hat die Schweiz in einer schwierigen Zeit gut positioniert, gut auch unsere Positionen kommuniziert. Er ist anerkannt bei anderen Staatsoberhäuptern.» Ignazio Cassis habe sich ein sehr gutes Beziehungsnetz aufgebaut – das sei sehr wichtig, so Thierry Burkart. 

Nun übergibt Ignazio Cassis das Amt an Alain Berset weiter. Als Aussenminister bleiben ihm aber die delikaten Dossiers Ukraine, Iran und die Beziehungen zur EU.

Rendez-Vous, 27.12.2022, 12:30

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