Per Akklamation ist Balthasar Glättli zum neuen Parteipräsidenten der Grünen gewählt worden. Was treibt ihn um? Wo legt er den Fokus?
SRF News: Für die Grünen stehen die Frauenrechte seit jeher weit oben. Jetzt wählt Ihre Partei einen Mann. Was ist los bei den Grünen?
Balthasar Glättli: Die Grünen sind die Partei der Gleichstellung, der Gleichberechtigung. Deshalb ist es für die Grünen nicht problematisch, wenn nach acht Jahren Frauen- respektive sogar Doppel-Frauen-Präsidium wieder ein Mann arbeiten darf.
Die Coronakrise stellt derzeit Ihr Thema, den Klimawandel, in den Schatten. Wie gehen Sie damit um?
Ich denke, das Bewusstsein für die fundamentale Krise dieses Jahrhunderts – die Klimakrise – ist weiterhin vorhanden. Zudem glaube ich, dass die Coronakrise viele Menschen zum Nachdenken gebracht hat: Was ist wirklich wichtig? Wo haben wir vielleicht einen materiellen Wohlstand angehäuft, der sich eher in Abfallbergen als in mehr Zufriedenheit äussert? Dafür wissen wir jetzt: Man kann auch via Videokonferenz Sitzungen abhalten. Wenn künftig auch nur ein Tag pro Woche so gearbeitet wird statt zu pendeln, haben wir bereits einen Fünftel der Verkehrsemissionen eingespart.
In der Krise wird härter um die finanziellen Ressourcen gerungen. Gleichzeitig ist der Kampf gegen den Klimawandel teuer. Das wird nicht einfach für Sie.
Die grösste aktuelle Gefahr ist, wenn es den Bürgerlichen gelingt, eine Fünf- oder Zehn-Jahres-Periode der Austerität, der extremen Sparpolitik durchzusetzen. Das würde das abwürgen, was die richtige Antwort wäre, nämlich: Ja, wir müssen investieren, um die Konjunktur und die Arbeitsplätze zu stützen. Aber nicht zweimal. Nicht zuerst jetzt zum Wiederaufbau der grauen Wirtschaft von gestern und später nochmals für die Transformation hin zu einer grünen Wirtschaft. Sondern wir müssen dies schon jetzt mit einem grünen Kompass tun.
Vielleicht muss man eine gewisse Bescheidenheit neu erlernen.
Dafür brauchen Sie die Mitte. Sie suchen bewusst die Nähe zur CVP. Gleichzeitig könnte sich die SP künftig markant links positionieren. Überholen die Grünen jetzt die SP rechts?
Das wäre jedenfalls nicht mein Ziel. Unsere Wertehaltung in der grünen Politik besagt, dass es ein gesundes menschliches Mass gibt, dass man auch eine gewisse Bescheidenheit vielleicht wieder lernen muss. Dies könnte auch wertkonservativen Wählerinnen und Wählern, wie sie die CVP hat, passen.
Sie sind auch Vater einer zweieinhalbjährigen Tochter. Wie wollen Sie das zeitintensive Präsidium mit Ihrem Familienleben unter einen Hut bringen?
Das wird eine der grössten Herausforderungen. Ich habe mich dazu verpflichtet, mich gleichberechtigt an der Erziehungsarbeit meiner kleinen Tochter zu beteiligen. Zum Teil kann man die neuen Technologien nutzen – man muss nicht überall hin reisen. Zudem besteht die Partei nicht nur aus einer Person. Ja, ich bin Präsident, aber es gibt noch sechs Vizepräsidentinnen und -präsidenten. Und viele neu gewählte Nationalräte und Ständerätinnen, die einen Teil der Arbeit übernehmen können, in der Öffentlichkeit und mit der Basis.
Ihre Frau ist SP-Nationalrätin Min Li Marti. Das ist die direkte Konkurrenz im linken Lager. Es gibt teilweise auch Konflikte zwischen den Fraktionen und Parteien. Wie gehen Sie damit um?
Die Situation ist schon so, seit wir uns kennengelernt haben. Wir haben Übung, damit umzugehen. Gewisse Dinge diskutiert man halt nicht am Küchentisch. Ich möchte aber hervorheben, dass die Grünen und die SP in erster Linie Partner sind – in ganz vielen politischen Kämpfen.
Das Interview führte Gaudenz Wacker.