Der Fels am Kleinen Nesthorn oberhalb von Blatten im Lötschental rutscht und bröckelt. Millionen von Kubikmetern Gestein könnten bald auf das Dorf niedergehen. Das weckt Erinnerungen an Brienz/Birnzauls in Graubünden. Das Bergdorf ist seit November evakuiert, weil ein massiver Bergsturz droht. Der emeritierte Professor für Ingenieurgeologie von der ETH Zürich vergleicht die beiden Situationen.
SRF News: Wie unterscheidet sich die Situation in Blatten von jener in Brienz/Brinzauls?
Simon Löw: Brienz ist eine sehr grosse Rutschung. Sie besteht aus unterschiedlichen Arten von Hanginstabilitäten. Diese sind seit den letzten 13'000 Jahren, also der letzten Eiszeit, aktiv. Die Menschen, die dort wohnen, wissen das seit mehreren hundert Jahren. Geologen untersuchen Brienz seit dem 19. Jahrhundert.
Das ist ein grosser Unterschied zum Nesthorn oberhalb von Blatten. Da gehe ich davon aus, dass man erst seit wenigen Tagen weiss, dass eine grosse Instabilität vorhanden ist.
Die Landschaftsoberfläche in Brienz ist im Mittel viel flacher als im Lötschental.
Gibt es noch einen anderen Unterschied?
Ein zweiter Unterschied ist die Topografie. Die Landschaftsoberfläche in Brienz ist im Mittel viel flacher als im Lötschental. Das hat Auswirkung darauf, welche Prozesse tatsächlich stattfinden und mit welcher Geschwindigkeit sie ablaufen.
Bei kleineren Ereignissen wie Murgängen oder Felsstürzen gibt es tatsächlich eine Zunahme bei der Häufigkeit.
Gibt es eine Häufung solch grosser Felsstürze und Bergrutsche?
Vor ein paar Jahren haben wir das im Rahmen einer Masterarbeit statistisch untersucht. Wir haben relativ klar gesehen, dass sich wirklich grosse Ereignisse von Millionen von Kubikmetern wie jetzt am Nesthorn oder wie in Brienz in den letzten Jahrzehnten nicht häuften gegenüber den letzten 300 Jahren. Aber bei kleineren Ereignissen wie Murgängen oder Felsstürzen gibt es tatsächlich eine Zunahme bei der Häufigkeit. Das beobachten wir seit den 1990er-Jahren. Das betrifft Volumen bis zu mehreren 100'000 Kubikmetern.
Wie kann man solche Ereignisse verhindern?
Stellt man solche Prozesse fest und schätzt einen baldigen, katastrophalen Abgang, dann gibt es unterschiedliche Methoden. Die einfachste besteht darin, den Schaden zu minimieren – etwa durch Schutzdämme. Man kann auch versuchen, einen Abgang mit Stabilisierungsmassnahmen zu verhindern. Das ist aber nur bei relativ kleinen Volumen möglich.
Wenn es um Millionen Kubikmeter von Gestein geht, ist das meistens nicht möglich. In diesem Fall gibt es nur die Möglichkeit eines Frühwarnsystems und schliesslich die Evakuation von Menschen.
Das Gespräch führte Marco Schnurrenberger.