Es ist schön auf der Stärenegg, auch wenn es regnet und der Wind heult. Weit geht der Blick über die Hügel des Emmentals, über die Wohnhäuser und Werkstätten des Berghofs und über die gepflegten Bauerngärten. So will es Michael Seiler haben.
Vor fast 50 Jahren hat der gelernte Bauschreiner den Berghof Stärenegg mitbegründet und seither mitentwickelt. Immer noch arbeitet er in der flächenmässig wohl grössten Institution in der Schweiz für Kinder- und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen.
Ohne gesunde Umgebung geht nichts
Die Schönheit des abgelegenen Ortes ist dabei nicht nette Zugabe, sondern unverzichtbare Grundlage für eine fruchtbare Arbeit. «In einer gesunden Umgebung lösen sich die Schlacken und Verhärtungen», sagt Seiler.
Wenn man jedoch alles herauskratzen müsse, seien die Kinder danach wund – von den unzähligen Therapien und den gut gemeinten, aber anmassenden Versuchen, sie gesellschaftsfähig zu machen.
Zuerst braucht es eine Auszeit
«Nicht die Kinder sind schwierig – die ganze Welt rundherum ist wahnsinnig kaputt», sagt Seiler. Deshalb bräuchten innerlich schwer verletzte Kinder zuerst einmal eine Auszeit in gesunder Umgebung. Erst danach könnten gezielte Einzeltherapien ins Auge gefasst werden.
Auch gehörten zu einer gesunden Umgebung Menschen, die den Kindern wohlgesinnt seien und im Alltag präsent seien; nicht bloss in Therapiesitzungen, Schulstunden oder Arbeitseinsätzen.
Hoch konzentriert bei der Sache
Zwei der Jungen im Heim üben das Knüpfen von Knoten. Die Zehnjährigen arbeiten hoch konzentriert. Nichts ist in diesem Moment von Aufmerksamkeitsdefiziten, von unkontrollierten Wutausbrüchen, von Selbst- und Fremdgefährdung zu spüren.
Wegen solcher Diagnosen werden Kinder und Jugendliche auf der Stärenegg platziert – und bleiben oft jahrelang dort. Gegenwärtig sind es 25 junge Menschen, die auf einem der sechs Stärenegg-Höfen hoch über Trubschachen leben und arbeiten. Hinzu kommen gut zwanzig Partnerbetriebe im In- und Ausland.
Betreut werden die Kinder und Jugendlichen von rund 30 Mitarbeitenden. Dabei handelt es sich um pädagogisch interessierte Leute – sie sind aber vor allem ausgezeichnete Mechaniker, Bäuerinnen, Pflegeeltern, Köche oder Schreinerinnen. Statt Hochschulen brauche es mehr Tiefschulen, sagt Seiler.
Auf Augenhöhe mit den Kindern
In den Tätigkeiten auf den Höfen müsse man immer besser und professioneller werden, so der Stärenegg-Gründer. «Aber im Pädagogischen müssen wir immer Amateur bleiben. Wir müssen auf Augenhöhe mit den Kindern bleiben und sagen: Ich weiss nicht, wer du bist – wir machen uns zusammen auf den Weg und versuchen gemeinsam, deine innersten Fähigkeiten – diesen Goldschatz – zu entwickeln.»
Jedes Kind kommt mit ureigenen Begabungen und künstlerischem Talent zur Welt, ist Seilers tiefste Überzeugung. Niemand könne wissen, was einst aus den Stärenegg-Kindern werde. Aber eines sei sicher: Die Zeit auf dem Berghof gebe ihnen Kraft und Selbstvertrauen. Und das sei das Allerwichtigste.