Die Schweiz behandelt ab dem 1. November Geflüchtete aus der Ukraine neu je nach Herkunftsgebiet unterschiedlich. Für Menschen aus sieben Regionen im Westen des Landes wird es in der Regel nicht mehr möglich sein, den Schutzstatus zu erhalten – denn der Bund erachtet eine Rückkehr dorthin als zumutbar. Osteuropa-Korrespondentin Judith Huber ordnet ein.
Sind die Gebiete im Westen der Ukraine weniger gefährlich?
Wenn man sie mit der extremen Gefährdung im Osten des Landes vergleicht oder auch mit der inzwischen sehr gefährlichen Lage in der Hauptstadt Kiew, dann sind diese Regionen im Westen etwas weniger gefährlich. Aber von Sicherheit kann man nicht sprechen. Alleine in den letzten zwei Wochen gab es dort zwei grosse Angriffe mit stundenlangem Bombenalarm und mehreren Hundert Drohnen und Raketen. Solche Bombennächte sind existenziell bedrohlich und furchterregend für die Menschen. Bei einem dieser Angriffe starben vier Menschen – eine ganze Familie. Es wurde ein Einfamilienhaus in der Nähe von Lwiw getroffen, aber auch ein Fabrikgebäude. Der Krieg ist dynamisch und seit Anfang Sommer hat Russland die Angriffe auf die Zivilbevölkerung noch verstärkt. Dies betrifft eben die ganze Ukraine, nicht nur Gebiete im Osten.
Lässt sich die ukrainische Bevölkerung einteilen in Gruppen, die mehr oder weniger gefährdet sind?
Die Trennschärfe ist natürlich nicht ganz gegeben. Der Krieg besteht zu einem grossen Teil aus Luftangriffen auf zivile Ziele, auf Wohngebäude, Energieinfrastruktur, Spitäler, Schulen. Aber man könnte schon sagen, dass für Kinder, Schwangere oder etwas ältere Personen das Ausharren in Schutzräumen und kalten Wohnungen schwieriger zu ertragen ist. Und alle leiden unter grossem Stress, auch vermeintlich Gesunde. So wurde unlängst von einem Fall berichtet, in dem eine Frau mittleren Alters während eines Luftangriffs in einem Schutzraum einen Herzinfarkt erlitt. Sie hat den Stress nicht mehr ausgehalten. Auch so etwas spielt eine Rolle in diesem Zermürbungskrieg.
Welches Signal setzt die Schweiz mit dem heutigen Entscheid?
Das Signal ist, dass die Schweiz die Solidarität und die Unterstützung für die Ukraine zurückfährt. Und dies geschieht in einer sehr schwierigen Zeit, in der es der Ukraine an allem fehlt und ein sehr strenger Winter vor der Tür steht. Denn Russland möchte mit seinen Angriffen einmal mehr die Energieinfrastruktur der Ukraine zerstören und für die Menschen diesen Winter völlig unerträglich machen. Dazu kommt, dass die Schweiz ihr humanitäres Engagement für die Ukraine immer wieder sehr betont hat, implizit auch als Kompensation dafür, dass man wegen der Neutralität keine Waffen liefert. Gleichzeitig machen die ukrainischen Behörden darauf aufmerksam, dass die russischen Raketen und Drohnen, die jeden Tag die Zivilbevölkerung terrorisieren, immer noch Komponenten westlicher Hersteller enthalten. Auch Komponenten von Schweizer Firmen. Die Schweiz schafft es also nicht, die Sanktionen gegen Russland, die sie mitträgt, auch wirksam umzusetzen, und fährt gleichzeitig die Unterstützung der Geflüchteten zurück, die vor diesen Drohnen und Raketen fliehen. Ich denke, das ist das Signal, das in der Ukraine ankommt.