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Ende der Schutzmassnahmen Wir Pandemiebewältiger: eine Schweizer Corona-Bilanz

Wie gut hat die Schweiz die Pandemie gemeistert? Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ordnen ein.

Die gute Nachricht: Aus wirtschaftlicher Sicht falle die Bilanz positiv aus, sagt Ökonom Klaus Abberger von der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich: «Angesichts des starken Schocks, der die Wirtschaft getroffen hat, sind wir relativ gut durchgekommen.» Im Herbst 2021 sei bereits wieder das Vorkrisenniveau erreicht worden. «Es war ein tiefer Einschnitt. Wir haben uns aber schneller davon erholt als von der Finanzkrise 2009.»

Auch im internationalen Vergleich steht die Schweiz gut da. Die Schweizer Wirtschaft habe sich schneller erholt als die deutsche oder die österreichische.

Angesichts des starken Schocks, der die Wirtschaft getroffen hat, sind wir relativ gut durchgekommen.
Autor: Klaus Abberger Ökonom an der Konjunkturforschungsstelle KOF

Eine wichtige Rolle hätten dabei die staatlichen Stützungsmassnahmen gespielt – in erster Linie die Kurzarbeitsentschädigung und die Härtefallhilfe für Firmen. «Man hat versucht, die Arbeitsplätze zu erhalten, auch wenn die Firmen nicht produzierten. Man hat sehr stark auf Kurzarbeit gesetzt und die Unternehmen finanziell unterstützt, um die Wirtschaft zügig wieder hochfahren zu können.»

Gemäss der KOF hat dies gut funktioniert. Wirtschaftlich steht die Schweiz nach der Krise bereits wieder gut da.

Mir persönlich hat es weh getan zu sehen, wie meine Schweiz, die ich als sehr kompetent wahrnehme, eine solche Krise mit Mittelmass bewältigt.
Autor: Marcel Salathé Epidemiologe an der ETH Lausanne

Die schlechte Nachricht: Bei der Bewältigung der Gesundheitskrise habe die Schweiz ihre Sache nur mittelmässig gemacht, sagt Marcel Salathé. Der Epidemiologe an der ETH Lausanne war Mitglied der Science-Taskforce des Bundes und hat sich intensiv mit der Pandemiebekämpfung befasst: «Mir persönlich hat es weh getan zu sehen, wie meine Schweiz, die ich als sehr kompetent wahrnehme, eine solche Krise mit Mittelmass bewältigt.»

Es gibt verschiedene Gründe für das mässige Abschneiden der Schweiz. Zu Beginn seien die Behörden schlicht schlecht vorbereitet gewesen. Einen Pandemieplan habe es zwar gegeben, aber er sei nicht konsequent umgesetzt worden. Masken, Desinfektionsmittel, Schutzausrüstung – vieles habe gefehlt. Daten seien per Fax übermittelt worden. Prädikat: ungenügend. Dann habe die Schweiz auch wiederholt zu langsam auf die Entwicklung der Pandemie reagiert.

Kritik am Föderalismus

Die Folge davon waren viele Corona-Tote. In diesem Bereich steht die Schweiz klar schlechter da als etwa die skandinavischen Länder. Die Schweiz habe einen gesundheitlichen Preis bezahlt, sagt Salathé: «Das sieht man auch an der Übersterblichkeit in der zweiten Welle.» Auch sozial seien die letzten Jahre stressig gewesen. «Wenn man die Fallzahlen tiefer gehalten hätte, hätte man diese Probleme verhindern können.»

Dass die Schweizer Politik dem Coronavirus immer wieder hinterherhinkte, hat auch mit dem Föderalismus zu tun, also mit der Gewaltenteilung zwischen Bund und Kantonen. Verschiedene Gesundheitspolitikerinnen kritisieren dieses System, unter ihnen Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel: «Man muss klar feststellen: Der Föderalismus ist nicht Krisen-tauglich.»

Man muss klar feststellen: Der Föderalismus ist nicht Krisen-tauglich.
Autor: Ruth Humbel Nationalrätin (Mitte/AG)

Man habe durch das Hin und Her zwischen Bund und Kantonen zu viel Zeit verloren. Trotzdem wird der Föderalismus mit seinen Stärken und Schwächen bleiben, genauso wie Defizite bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Mitte-Politikerin Humbel und Epidemiologe Salathé sind sich einig, dass die Schweiz noch nicht alle Probleme gelöst habe, damit man mit Zuversicht auf den Herbst blicken könnte. Denn dann dürfte die Zahl der Ansteckungen wieder steigen.

Salathé hat ein mulmiges Gefühl: «Wir haben eine enorm starke Wissenschaft, Wirtschaft und Technologie. Mit diesen Zutaten müsste man einen besseren Kuchen backen können. Das können wir auch. Wir müssen uns aber besser vorbereiten und jetzt Vollgas geben für den Herbst.»

Echo der Zeit, 30.03.2022, 18 Uhr

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