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«Nächstenliebe und Menschenliebe sind immer kulturell geprägt»
Aus Regionaljournal Bern Freiburg Wallis vom 16.03.2022. Bild: Keystone
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Flüchtlinge in der Schweiz «Der Stresstest für die Willkommenskultur folgt später»

Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer strömen derzeit in die Schweiz. Den Flüchtlingen schwappt eine Welle der Solidarität entgegen. Gegenüber Kriegsflüchtlingen aus Syrien oder Afghanistan hingegen zeigen sich die Menschen zurückhaltender. Der Berner Historiker André Holenstein erklärt die Gründe. Und sagt, wann die eigentliche Bewährungsprobe für die Schweizer Willkommenskultur ansteht.

André Holenstein

André Holenstein

Historiker

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André Holenstein (62) ist Direktor des Historischen Instituts der Universität Bern und Professor für ältere Schweizer Geschichte.

SRF News: Schweizerinnen und Schweizer versuchen den Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen, wo sie nur können. Wann hat dies die Schweiz in ihrer jüngeren Geschichte zuletzt erlebt?

André Holenstein: Der Ungarn-Aufstand 1956 und die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 führten zu massiven Flüchtlingsbewegungen und lösten bei uns enorme Solidaritätswellen aus. Viele Schweizerinnen und Schweizer kauften damals Wimpel mit der Flagge der Tschechoslowakei und befestigen sie stolz an ihren Autos. Und so drückten sie die Solidarität für die Bewegung aus, die in Prag mit Panzern niedergewalzt wurde. Diese Leute wurden damals wie heute mit offenen Armen empfangen.

Panzer in Prag
Legende: Russische Panzer fuhren am 21. August 1968 auf dem Prager Wenzels-Platz auf. Und lösten eine riesige Flüchtlingswelle aus. Keystone

Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan wurden ebenfalls durch grausame Kriege vertrieben. Warum werden diese Leute durch Gesellschaft und Politik nicht mit den gleichen Sympathien empfangen wie die Ukrainer und Ukrainerinnen?

Nächstenliebe und Menschenliebe sind immer kulturell geprägt. Man muss fast ein bisschen Verständnis dafür haben, dass die Schicksale von Menschen aus weit entfernten Gebieten und Kulturen uns weniger betroffen machen. «Was in der Ukraine passiert, betrifft uns», betonen Medien wie Politik ununterbrochen.

Nächstenliebe und Menschenliebe sind immer kulturell geprägt.

Der Krieg, den Putin führt, ist ein Krieg gegen Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und gegen eine offene Gesellschaft. Diese Werte sehen wir in der Schweiz als Teil unserer Kultur und Überzeugung.

Der Angriffskrieg von Putin gegen die Ukraine erinnert ältere Generationen an den Kalten Krieg. Welchen Einfluss hat dies?

Im Kalten Krieg gab es in Europa eine sehr konfrontative Situation: auf der einen Seite der Westen, zu dem sich auch die neutrale Schweiz zählte, auf der anderen der Warschauer Pakt mit der Sowjetunion. Auf der einen Seite sind die Guten, auf der anderen die Bösen. Wer damals Militärdienst leistete, ist mit dieser Situation gross geworden. Heute haben viele Leute ein Déjà-vu an diesen ideologischen Konflikt der Weltanschauungen. Diesen Clash der Ideologien, der Zusammenprall der Werthaltungen, erleben wir erneut. Bei der Solidarität mit der Ukraine geht es auch darum, unsere Werte zu verteidigen.

Wegweiser in Zürich
Legende: Eine Ukraine-Flagge weist den Flüchtlingen in Zürich den Weg zum Empfangszentrum. Keystone

Wie lange wird die Hilfsbereitschaft der Leute anhalten?

Was im Moment in Polen oder anderen osteuropäischen Ländern passiert, steht enorm unter dem Eindruck des Krieges, der Zerstörung, des Elendes. Da ist die Hilfsbereitschaft sehr gross. Wir hoffen natürlich alle, dass mit einem Waffenstillstand in der Ukraine wieder Frieden einkehrt. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sagen jetzt, dass sie dann sofort wieder in ihr Land zurückkehren wollen. Davon gehe auch ich aus.

Aber es wird sicher Flüchtlinge geben, die in der Schweiz bleiben wollen. Man muss die Thematik mittel- und langfristig anschauen. Jetzt haben die Menschen angesichts der scheusslichen Bilder ein grosses Bedürfnis, den Flüchtlingen zu helfen. Der eigentliche Stresstest für die Willkommenskultur steht später an. Dann, wenn es darum geht, Platz zu machen, Arbeit zu beschaffen, die Leute zu integrieren.

Das Gespräch führte Christian Liechti.

Regionaljoural BE FR VS, 16.03.2022, 17.30 Uhr;

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