Im neuenburgischen Corcelles hat ein Mann mutmasslich die Exfrau und die beiden Töchter getötet. Damit steigt die Zahl der Femizide 2025 auf 22 Fälle – das sind mehr als die letzten Jahre. Der forensische Psychiater Marc Graf über die Ursachen der steigenden Femizide.
SRF News: Marc Graf, es dürfte dieses Jahr so viele Femizide geben wie schon lange nicht mehr. Überrascht Sie das?
Marc Graf: Ja. Tendenziell gehen die schweren Straftaten eher zurück. Fast alle zwei Wochen wird eine Frau getötet, das ist definitiv zu viel. Da kann man nur hoffen, dass es kein mittel- und langfristiger Trend ist.
Diese Männer haben ein niedriges Selbstwertgefühl und keine prosozialen Strategien, wie sie sich für Frauen wieder attraktiv machen können.
Was sind das für Männer, die Femizide begehen?
Es gibt verschiedene Muster. Aber ein durchgängiges Muster ist das eines Mannes mit einer prinzipiell narzisstischen Problematik. Er ist innerlich unsicher und hat Angst, dass er keine Frau findet. Und wenn er dann eine Frau hat, hat er dauernd Angst, dass sie ihn verlässt. Diese Männer haben ein niedriges Selbstwertgefühl und keine prosozialen Strategien, wie sie sich für Frauen wieder attraktiv machen können. Sie haben nicht gelernt, Probleme auf eine sozial adäquate Art zu lösen, sondern entwickeln dann – vor dem Hintergrund dieser Verlustangst – primitive Abwehrmechanismen, wie eben Gewalt. Sie suchen die Schuld bei der «bösen» Frau, die ihre Erwartungen nicht erfüllt hat.
Woher kommt diese Verlustangst der Männer?
Die ist evolutionsbedingt. Noch vor 10'000 Jahren, das ist evolutionär nicht lange her, haben wir sozial und kulturell funktioniert wie unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen. Nur der stärkste mit dem höchsten Testosteronspiegel konnte sich mit den Frauen aus seinem Harem paaren. Heute sind andere Fertigkeiten gefordert und die Frauen sind unabhängiger, verdienen ihr eigenes Geld und können dank Verhütung über Schwangerschaft selbst entscheiden. Mit dieser Entwicklung sind Männer teilweise überfordert. Das entschuldigt aber rein gar nichts.
Wir sehen Femizide durchgängig auch in allen sozialen Schichten und kulturellen Kreisen. Es passiert also auch in den ‹besten› Familien.
Wer ist davon besonders betroffen?
Es sind überproportional häufig Männer aus kulturellen Systemen, die patriarchalisch orientiert sind. Die suchen dann in ihren Kulturen und Religionen vermeintliche Legitimation für ihr Verhalten und Gewalt, bis hin zur Tötung ihrer Frau. Da geht es etwa um die vermeintliche Wiederherstellung der Ehre. «Wenn ich ein Mann bin, muss ich sie verletzen. Sie hat es nicht anders gewollt.»
Aber wir sehen Femizide durchgängig auch in allen sozialen Schichten und kulturellen Kreisen. Es kommt also auch in den «besten Schweizer» Familien vor.
Wie kann man Männern helfen?
Wir müssen heranwachsenden Männern – also Jungen und Teenagern – zeigen, was ein attraktiver Mann für Frauen ist. Was will die Frau? Wie hält man eine Beziehung am Leben? Und wie anständig beenden? Es fängt bereits in der Primarschule an, dass wir positive, attraktive und moderne Rollenmodelle vermitteln.
Als Gesellschaft müssen wir Normen definieren und leben, Betroffenen Hilfe anbieten. Kindererzieher und -erzieherinnen brauchen mehr Unterstützung durch Soziologen und Psychologinnen, damit wir bei Verhaltensauffälligkeiten früh intervenieren können. Es ist ein Thema, dass Frauen und Männer gemeinsam lösen müssen.
Der Zeitgeist geht aber eher in eine andere Richtung ...
Genau. Es ist sicherlich nicht förderlich für diese Entwicklung, wenn in den USA ein Mann als Präsident gewählt wird, der öffentlich Sätze wie «Grab'em by the pussy» äussert. Die Gesellschaft wird eher wieder konservativ, man sucht in schwierigen Zeiten nach einfachen Antworten.
Das Gespräch führte Martina Odermatt.