Am Samstag ist eine unbewilligte Demonstration gegen den Gaza-Krieg eskaliert. Grundrechtsanwalt Viktor Györffy beobachtet die Polizeiarbeit seit Jahren und ordnet ein.
SRF: An der Pro-Palästina-Demo kam es zu wüsten Szenen. Hat die Polizei richtig reagiert?
Viktor Györffy: Ich habe den Eindruck, dass die Polizei zu wenig gut vorbereitet war. Aus dem heraus fiel es ihr schwerer, adäquat zu reagieren.
Welche Lehren sind aus dem Vorfall zu ziehen?
Mein Eindruck ist immer wieder: Wie man einen Polizeieinsatz plant, hat grosse Auswirkung darauf, wie repressiv die Polizei einfährt. Ob sie andere Strategien sucht, hängt auch davon ab, wie viele polizeiliche Ressourcen zur Verfügung stehen.
Je weniger Polizisten im Einsatz sind, desto eher müssen sie zu Gewalt greifen.
Wie der konkrete Einsatz abläuft, ist also auch ein Resultat der Planung. Man müsste also eher die Vorbereitung verbessern, als sich zu fragen, ob die Polizei im Moment richtig reagiert hat.
Die Kantonspolizei Bern sagt, sie habe – trotz zahlenmässiger Unterlegenheit – die Synagoge und die israelische Botschaft vor gewaltbereiten Demonstrierenden schützen müssen. Darf sie in solchen Situationen Gewalt anwenden?
Unter Umständen ist der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt. Je weniger Polizisten im Einsatz sind, desto eher müssen sie zu Gewalt greifen. Deshalb bleibt die Frage: Warum waren nicht mehr Polizeikräfte vor Ort? Das hätte zu weniger Gewalt führen können.
Laut Kantonspolizei Bern ist es in den letzten Jahren an Demos eigentlich friedlicher geworden. Teilen Sie den Eindruck?
Die gesamte Entwicklung kann ich nicht einschätzen. Mein Eindruck einzelner Vorfälle ist aber: Oft ist es eine konkrete Dynamik, die zu mehr oder weniger Gewalt führt. Das hängt von vielen Faktoren ab: oft – aber nicht nur – vom Verhalten der Polizei. Es ist immer wieder so, dass es bei heiklen Ausgangslagen trotzdem friedlich abläuft. Alle Beteiligten tragen dazu bei, ob eine Demo friedlich bleibt oder eskaliert.
Gefühle der Überforderung oder Wut sind menschlich – Polizeibeamte müssen sich aber bewusst sein, dass es sich nicht um eine private Auseinandersetzung handelt.
Die Demonstrierenden am Wochenende waren bewaffnet und aggressiv. Radikalisiert sich die Pro-Palästina-Bewegung gerade?
Da muss man unterscheiden: Es ist möglich, dass Personen, die sich für Palästina einsetzen, inhaltlich extremer werden. Der Israel-Palästina-Konflikt führt tendenziell zu Polarisierung und Schwarz-Weiss-Denken. Leider vermengt sich das nicht selten mit antisemitischen Stereotypen. Ob aber eine Demo eskaliert, hat nicht nur damit zu tun, sondern hängt meiner Erfahrung nach eher von der erwähnten Dynamik ab.
Der Schlagstockeinsatz am Wochenende war offenbar regelkonform. Die Stadtpolizei Zürich kam kürzlich aber in die Kritik, weil sie – ohne in einer Notwehrsituation zu sein – auf Kopfhöhe geschlagen hat. Wie müsste man Polizisten schulen, damit das nicht mehr passiert?
Zentral sind zwei Aspekte: Den Polizeibeamten sollte bewusst sein, dass Demonstrierende ihre Menschenrechte ausüben. Zweitens sollte ihnen bewusst sein, dass sie nicht als Privatpersonen an der Demo stehen. Sie setzen das Gewaltmonopol des Staates um und dürfen als Einzige Gewalt anwenden – das ist eine hohe Verantwortung. Dass bei Angriffen durch Demonstrierende bei Polizeibeamten Gefühle der Überforderung oder Wut aufkommen, ist menschlich – Polizeibeamte müssen sich aber bewusst sein, dass es sich nicht um eine private Auseinandersetzung handelt, sondern dass sie in der Rolle des Staates dort stehen. Es ist wichtig, dass die Polizeibeamten bei diesen psychischen Aspekten genügend Unterstützung und Schulung bekommen.
Das Gespräch führte Sibilla Bondolfi.