Gemäss einer neuen Umfrage des Tessiner Gesundheitsdepartements haben 29 Prozent der Bevölkerung in den letzten zwölf Monaten Antibiotika eingenommen. In der Westschweiz waren es nur 26 und in der Deutschschweiz 21 Prozent. Kantonsarzt Giorgio Merlani vermutete im Tessiner Fernsehen dahinter kulturelle Unterschiede.
In Südeuropa wird häufiger Antibiotika abgegeben
In der Sendung Il Quotidiano erklärte Merlani, dass in einigen europäischen Ländern ein deutlicher Trend zur Verschreibung von mehr Antibiotika zu beobachten sei. Insbesondere in Süditalien, Spanien und Portugal würden tendenziell häufiger und mehr Antibiotika verschrieben als in anderen europäischen Ländern.
Im Tessin arbeiten viele italienische Ärzte. So kommt es, dass hier tatsächlich mehr Antibiotika eingenommen werden als in den anderen Sprachregionen.
Ärzte, die in diesen südeuropäischen Ländern studiert haben, verschreiben später mehr Antibiotika als ihre Kollegen, die in Frankreich oder Deutschland studiert haben, meint auch die Journalistin Martina Kobiela von der «Tessiner Zeitung», der einzigen deutschsprachigen Zeitung aus dem Südkanton.
«Im Tessin arbeiten viele italienische Ärzte, weil die Löhne höher sind und sie keine Sprachbarriere überwinden müssen, um in der Schweiz zu arbeiten. So kommt es, dass hier tatsächlich mehr Antibiotika eingenommen werden als in den anderen Sprachregionen.»
Die häufige Verabreichung von Antibiotika ist problematisch. «Die Umfrage hat auch gezeigt, dass es noch grosse Wissenslücken gibt. So wussten nur vier Prozent der Befragten, dass nicht der Mensch selbst, sondern die Bakterien resistent gegen Antibiotika werden können. Und nur etwa die Hälfte der Befragten wusste, dass sie nicht bei viralen, sondern nur bei bakteriellen Infektionen helfen», fasst Kobiela die Ergebnisse zusammen.
Werden Antibiotika jedoch falsch eingesetzt, zum Beispiel zu früh abgesetzt oder bei einer einfachen Erkältung eingenommen, fördert dies die Entstehung von Resistenzen. Im Tessin ist also noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten.
Ein Tessiner Beispiel könnte schweizweit Schule machen
Der Kanton hat aber auch Erfolge zu verzeichnen. Vielerorts in der Schweiz ist es heute so, dass man eine ganze Packung Antibiotika bekommt, aber dann nicht alle Tabletten braucht. Entsprechend viele Tabletten werden weggeworfen. Die kantonale Umfrage im Tessin hat gezeigt, dass aber gerade Einwohnerinnen und Einwohner des Südkantons relativ diszipliniert sind, was die Entsorgung von Antibiotika betrifft.
«Das liegt daran, dass die Tessiner Apotheken ab 2019 Antibiotika nur noch abgezählt abgeben – also genau so viele Tabletten, wie der Arzt verschrieben hat. Dann hat man sowieso keine angebrochenen Packungen mehr im Schrank», erklärt Martina Kobiela. Mit dieser Massnahme wollen die Behörden Antibiotikaresistenzen vermeiden.
Das System scheint tatsächlich zu funktionieren und könnte bald in der ganzen Schweiz zum Einsatz kommen. Eine Machbarkeitsstudie des Bundesamtes für Gesundheit hat gezeigt, dass die Einzelabgabe von Antibiotika, wie sie im Tessin bereits seit fünf Jahren praktiziert wird, grundsätzlich machbar ist und von den Patientinnen und Patienten auch gut akzeptiert wird.
Man geht davon aus, dass die Medikamente dadurch korrekter eingenommen werden und weniger Antibiotika im Abfall oder Abwasser landen. Der Bund prüft nun im Rahmen der Strategie Antibiotikaresistenzen, ob die Einzelabgabe schweizweit eingeführt werden soll.