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Wie weit darf man für Klimaanliegen gehen?
Aus 10 vor 10 vom 12.10.2022.
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Illegale Aktionen Wie weit darf ziviler Ungehorsam fürs Klima gehen?

Strassenblockaden auf Autobahnen oder Brücken, Zugangsverweigerung in Industrieunternehmen – Aktionen von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten häufen sich. Ab wann werden solche Aktionen kontraproduktiv?

Dienstagmorgen in Lausanne: Klimaaktivistinnen blockieren die Chauderon-Brücke mitten in der Stadt. Samstagnachmittag in Zürich: Auf der Hardbrücke kleben sich Aktivistinnen am Boden fest und legen damit den Verkehr lahm. Montagmorgen in Cressier: Aktivisten blockieren die Zufahrt zur Erdölraffinerie. Dienstagmorgen in Bern: Mit einer Verkehrsblockade demonstrierten Aktivistinnen bei der Autobahn-Ausfahrt Bern-Wankdorf für mehr Klimaschutz. 

Personan sitzen auf einer Fahrbahn und halten ein Plakat in der Hand.
Legende: «Renovate Switzerland» ist meist für solche radikalen Aktionen verantwortlich. Keystone/Archiv/ LAURENT GILLIERON

Vier Aktionen innerhalb von einer Woche. Seit April haben in der Schweiz sogar rund ein Dutzend solcher Blockaden stattgefunden. Lanciert werden diese Aktionen meist von der Gruppe «Renovate Switzerland». Gemäss eigenen Angaben setzt sie sich dafür ein, die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu beenden. Dies soll mit thermischen Renovationen von Gebäuden erreicht werden. Die Bewegung fordert dafür vom Bundesrat 4 Milliarden Franken für Umschulungen im Baugewerbe. 

Auch bei Linken umstritten

Aktionen des zivilen Ungehorsams sorgen zwar für Aufmerksamkeit, sind aber umstritten. Von bürgerlicher Seite werden sie scharf kritisiert. Das ist schon länger bekannt. Neu ist allerdings, dass auch Parlamentsmitglieder aus den Reihen von SP und Grünen die Aktionen mit Skepsis beobachten – oft hinter vorgehaltener Hand.

Mit diesen Aktionen verspielt man Sympathien.
Autor: Mustafa Atici Basler SP-Nationalrat

Einer, der dies offen tut, ist der Basler SP-Nationalrat Mustafa Atici. Er hält solch radikale Aktionen für schädlich. Damit verspiele man Sympathien, betont der linke Politiker. «Dabei brauchen wir in diesem Thema die Unterstützung von allen.» Die Forderungen nach schärferen Klimaschutzmassnahmen seien in der Politik angekommen, sagt der Nationalrat. Erst recht in links-grün regierten Städten wie in Zürich oder Bern.

Gerade diese Städte sind es aber, in denen die Blockaden oft errichtet werden. Berns Stadtpräsident Alec von Graffenried (Grüne) betrachtet Aktionen, die aufrütteln wollen, grundsätzlich als wichtig. «Aber ich bin erstaunt über den Zeitpunkt – gerade jetzt ist diese Debatte ja in vollem Gang.» Das Parlament habe aufgrund der Energiekrise endlich lang ersehnte Beschlüsse gefasst. «Im Moment ist in diesem Thema so viel Bewegung drin wie schon lange nicht mehr.» 

Wichtiges demokratisches Instrument

Oft enden Aktionen wie Strassenblockaden für die Beteiligten mit Strafbefehlen wegen Nötigung oder Hausfriedensbruch. Wer sich dagegen wehrt, muss sich vor Gericht verantworten. Doch das nehmen die Aktivistinnen in Kauf.

«Für die Demokratie ist dieser Freiraum wichtig»

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Legende: SRF

«10vor10» sprach mit Helen Keller, ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und aktuell Professorin für öffentliches Recht an der Universität Zürich.

SRF: Diese jüngsten Proteste, gelten die als Gewalt? Was ist die juristische Einordnung?

Helen Keller: Es gibt zwei Kategorien: Man muss unterscheiden zwischen legal und illegal sowie zwischen friedfertig und gewaltvoll. In die Illegalität rutscht man schnell, etwa, wenn man einen Verkehrsweg blockiert. Wenn man aber einfach sitzt, dann ist das keine Gewalt. Das ist eine wichtige Unterscheidung, die auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat. Nur der Umstand, dass eine Aktion illegal ist, bedeutet nicht, dass sie von den Menschenrechten nicht geschützt ist, solange sie friedlich ist.

Wo liegt der Knackpunkt für die Justiz?

Juristisch ist die Sachlage klar. Das sind Straftaten und man hat schon Möglichkeiten. Man kann ein Verfahren einstellen, man kann eine einfache oder symbolische Busse aussprechen. Aber der Straftatbestand ist in der Regel erfüllt, ausser man sagt: Da hat es Rechtfertigungsgründe gegeben. Ich finde es aber problematisch, wenn man sagt: Bei Klimaaktivisten ist der Rechtfertigungsgrund immer da. Da sollte man als Richter zurückhaltender sein.

Wie viel zivilen Ungehorsam muss denn die Gesellschaft akzeptieren?

Es ist ganz wichtig, dass eine Gesellschaft realisiert, dass es für eine Demokratie wichtig ist, dass es diesen Raum gibt. Wenn die Leute nicht mehr auf die Strasse gehen und protestieren können, dann stimmt etwas nicht. Die Menschen haben ein echtes Anliegen und solange sie gewaltlos dafür einstehen, ist es ein legitimes Ziel und das dürfen sie machen. Der zivile Ungehorsam ist dann eher ein gesellschaftliches Problem. Die Frage ist dann: Wann verblasst der Aufrüttelungseffekt?

Selina Lerch ist eine davon. Es bleibe ihr ja nichts anderes übrig. «Ich würde auch gerne etwas anderes machen – aber wir sind derart in einem Notstand, dass der politische Weg viel zu langsam ist.» Ihr sei bewusst, dass die Blockaden viele Leute störten und unangenehm seien. «Aber wenn wir jetzt nicht handeln, sind wir bald viel grösseren Gewalten ausgesetzt.»

Gewaltfreie Aktionen und Demonstrationen seien ein wichtiges Instrument in einer funktionierenden Demokratie, sagt Helen Keller. Sie ist Professorin für öffentliches Recht an der Universität Zürich und ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. «Für Minderheiten sind sie häufig das einzige Mittel, ihre Meinung kundzutun.»

10vor10, 12.10.2022, 21:50 Uhr

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