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Interview zum Tag Sind Schweizer eigensinniger als andere, Herr Berset?

Der Bundesrat hat das Ende der Gratis-Tests beschlossen. Der Bund will ausserdem beim repetitiven Testen, zum Beispiel in Betrieben oder Bildungseinrichtungen, die Kosten für die Ausstellung eines Zertifikats übernehmen. Zudem wird eine Impfoffensive gestartet. Ob das die Impfquote steigern wird oder eher den Unmut in der Bevölkerung – dazu äussert sich Berset im Interview.

Alain Berset

Bundespräsident

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Alain Berset ist seit 2012 Bundesrat und Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI). Für das Jahr 2023 ist Berset zudem Bundespräsident. Er wurde 1972 geboren, studierte an der Universität Neuenburg Politik- und Wirtschaftswissenschaften, die er 2005 mit dem Doktorat abschloss. Der Sozialdemokrat war für den Kanton Freiburg im Ständerat und übte dort 2008 und 2009 das Amt des Ständeratspräsidenten aus. Neben seinem politischen Mandat präsidierte Berset den Westschweizer Mieterinnen- und Mieterverband und die Schweizerische Vereinigung zur Förderung der AOC/IGP.

Ende 2023 wird Alain Berset nicht mehr als Bundesrat kandidieren.

SRF: Herr Bundesrat, 59 Prozent der Leute in der Schweiz sind geimpft. Sie haben gesagt, das sei eine der tiefsten Quoten in Europa. Warum ist sie in der Schweiz so tief?

Alain Berset: Das ist schwierig zu erklären. Wir hatten Anfang Jahr eine der besten Ausgangslagen der Welt mit dem Zugang zu den besten Impfungen. Jetzt, neun Monate später, sind wir das Schlusslicht in Europa.

Sind die Schweizer eigensinniger als Menschen in anderen Ländern?

Es gibt viele Länder, in denen man wirklich stark unter der Pandemie gelitten hat. Mit überlasteten Spitälern, mit Horrorszenen in den Intensivstationen. In diesen Ländern ist die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, viel höher. Auch in der Schweiz ist die Impfquote in den Kantonen, die stark gelitten haben, tendenziell höher als in anderen. Das mag eine Rolle spielen.

Unsere Impfquote ist einfach zu tief, um die Krise zu beenden.
Autor: Alain Berset Gesundheitsminister

Habe ich Sie richtig verstanden: Sie sagen, es ist uns «zu gut gegangen», sonst hätten sich die Leute mehr impfen lassen.

Sie haben nach einer Erklärung gefragt, und ich weiss es auch nicht genau. Das Wichtigste heute ist: Wir müssen noch mehr tun, noch mehr Leute von der Impfung überzeugen.

Das machen Sie jetzt mit einer Impfoffensive, sie investieren 150 Millionen Franken. Das heisst: Sie glauben daran, dass sich mehr Leute impfen lassen, wenn man sie besser informiert?

Nicht nur. Man muss auch näher an die Leute ran gehen. Man muss niederschwellige Angebote entwickeln. Wir haben zurzeit etwa 50 Impfmobile in der Schweiz. Das ist viel zu wenig, um alle zu erreichen. Wir wollen das stark pushen, damit die Leute, die keine Zeit haben, in die Stadt zu gehen, sich auch im Tal, im Dorf impfen lassen können.  Wir wollen ihnen auch Beratung anbieten, die helfen kann, die Leute besser zu informieren. Aber am Schluss bleibt es ein freiwilliger Akt. Unsere Impfquote ist einfach zu tief, um die Krise zu beenden. In anderen Ländern sehen wir, wie sehr eine hohe Impfquote hilft. In vielen Ländern kann man jetzt sagen: wir sind aus der Krise raus. Das können wir noch nicht sagen.

Ist es nicht vielmehr so, dass die Leute, die sich bis jetzt, nach so vielen Monaten, nicht impfen lassen haben, das einfach nicht wollen? Und die bringt man auch mit besserer Information nicht dazu.

Nein, das glaube ich nicht. Ich höre oft von Leuten, die sagen: Ich brauche eine Stunde mit dem Auto, um von mir im Tal, im Dorf ins Zentrum zu kommen. Es gibt bei uns keine Möglichkeit zum Impfen. Für solche, die kein Auto haben und auf den ÖV angewiesen sind, ist es fast unmöglich. Solche Leute haben bisher verzichtet. Wir wollen, dass es ganz unkomplizierte Möglichkeiten gibt mit Impfmobilen vor Ort, auf dem Dorfplatz, mit Leuten, die Fragen beantworten können. Wir sind der Überzeugung, dass das helfen kann. Und wir sehen auch, dass genau solche Elemente in anderen Ländern funktionieren.  

Sie beenden jetzt für die meisten Menschen die Gratis-Tests. Viele sagen, Sie trügen damit noch mehr bei zur Spaltung der Gesellschaft.

Der Bundesrat hat schon im August gesagt, es lässt sich nicht erklären, warum die Allgemeinheit für die Kosten dieser Tests aufkommen soll. Der Bundesrat zeigt jetzt eine gewisse Flexibilität. Es ist jetzt etwas später als der 1. Oktober, und die Tests bleiben gratis für alle, die einmal geimpft sind. Sie bleiben auch gratis für Kinder und für Leute, die sich nicht impfen lassen dürfen, für Besuche in Heimen oder Spitälern, auch für symptomatische Personen. Es ist eine Entwicklung, die aus unserer Sicht in die richtige Richtung geht.

Sie sagen zwar immer, es gibt keinen Impfzwang. Aber der Druck, dass sich die Leute impfen lassen sollen, wird nochmals massiv erhöht. Das sollte man doch einfach transparent kommunizieren.

Es bleibt ein freiwilliger Akt. Aber wer das nicht will, auch wenn es der einzige Weg aus der Krise ist, der soll dafür etwas bezahlen. Und wissen Sie: Das Ende der Gratis-Tests wird eine Wirkung haben auf die Preise, das wird sicher innovative Lösungen geben. Es gibt auch die repetitiven Tests, in Unternehmen, in Bildungseinrichtungen, wo man sich gratis testen und auch gratis ein Zertifikat erhalten kann. Aber klar: wenn sich nicht mehr Leute impfen lassen, dann werden wir diese Krise nicht beenden können.

Das Gespräch führte Urs Leuthard.

Tagesschau, 01.10.2021, 18 Uhr ; 

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